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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Er liebte gute Kost: doch schien ihm die Zeit verloren, die man bei Tische
verbrachte, und er wünschte, daß, indem man des Morgens einen Bissen verschlang,
man den ganzen Tag nicht mehr vom Hunger geplagt werde. Heute ist man
Feinschmecker und rühmt sich dessen. Zur Zeit Beyles machten die Männer auf
Energie und Muth Anspruch. Wie sollte man auch zu Felde ziehen, wenn man
Gastronom ist.

Die Polizei des Kaiserreichs drang überall hin, wie man behauptete, und
Fouche wußte alles, was man in den Salons von Paris sagte. Beyle war
überzeugt, daß dieses riesenhafte Spionirsystem seine geheime Gewalt behalten
habe. Er umgab sich auch mit den kleinlichste" Vorsichtsmaßregeln selbst für die
gleichgiltigsten Handlungen.

Niemals schrieb er einen Brief, ohne mit einem erdichteten Namen zu unter-
zeichnen: Cesar, Boudet, Colonel n. s. w. Er datirte seine Briefe ans Abeille
statt aus und oft begann er mit einer Phrase wie folgende: "Ich habe Ihre
rohe Seide empfangen und habe sie in die Magazine bringe" lassen, bis sie
eingeschifft werden soll."

Alle seine Freunde hatten einen Kricgsnamen und niemals nannte er sie
anders. Niemand wußte genau, mit was für Leuten er verkehrte, was für
Bücher er" geschrieben, was für Reisen er gemacht hatte.

Ich bilde mir ein, daß irgend ein Kritiker des zwanzigsten Jahrhunderts die
Bücher Beyles entdecken werde unter dem Wüste der Literatur des neunzehnten
Jahrhunderts, um ihnen die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie bei ihren
Zeitgenossen nicht gesunden. So ist Diderots Ruf im neunzehnten Jahrhunderte
großer geworden, und so wurde Shakespeare, vergessen zur Zeit von Saint-
Evremont, durch Garrick wieder entdeckt. Es wäre zu wünschen, daß die Briefe
Beyles eiues Tags veröffentlicht würden; sie würden einen Mann bekannt und
lieben machen, dessen Geist und dessen vortreffliche Eigenschaften nur mehr im
Gedächtnisse einer kleinen Anzahl von Freunden lebten.




Das Christenthum und die Religion der Zukunft.
Christenthum und Humanismus. Oder das religiöse Bewußtsein Jesu und die
Erlösungsthatsache des Christenthums. Von Ludwig Noack. Rudolstcidt.
Fröbel. --
System des christlichen Lebens. Von or. Wilhelm Böhmer, Professor der
evangelischen Gottesgcl-ihrtheit und Consistorialrath zu Breslau. -- Berlin, Korn.

Zu verschiedenen Zeiten hat man sich Mühe gegeben, die abweichenden Bil-
dungselemente, aus deren Neutralisation in unserer Zeit dasjenige hervorgegangen


Er liebte gute Kost: doch schien ihm die Zeit verloren, die man bei Tische
verbrachte, und er wünschte, daß, indem man des Morgens einen Bissen verschlang,
man den ganzen Tag nicht mehr vom Hunger geplagt werde. Heute ist man
Feinschmecker und rühmt sich dessen. Zur Zeit Beyles machten die Männer auf
Energie und Muth Anspruch. Wie sollte man auch zu Felde ziehen, wenn man
Gastronom ist.

Die Polizei des Kaiserreichs drang überall hin, wie man behauptete, und
Fouche wußte alles, was man in den Salons von Paris sagte. Beyle war
überzeugt, daß dieses riesenhafte Spionirsystem seine geheime Gewalt behalten
habe. Er umgab sich auch mit den kleinlichste» Vorsichtsmaßregeln selbst für die
gleichgiltigsten Handlungen.

Niemals schrieb er einen Brief, ohne mit einem erdichteten Namen zu unter-
zeichnen: Cesar, Boudet, Colonel n. s. w. Er datirte seine Briefe ans Abeille
statt aus und oft begann er mit einer Phrase wie folgende: „Ich habe Ihre
rohe Seide empfangen und habe sie in die Magazine bringe» lassen, bis sie
eingeschifft werden soll."

Alle seine Freunde hatten einen Kricgsnamen und niemals nannte er sie
anders. Niemand wußte genau, mit was für Leuten er verkehrte, was für
Bücher er" geschrieben, was für Reisen er gemacht hatte.

Ich bilde mir ein, daß irgend ein Kritiker des zwanzigsten Jahrhunderts die
Bücher Beyles entdecken werde unter dem Wüste der Literatur des neunzehnten
Jahrhunderts, um ihnen die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie bei ihren
Zeitgenossen nicht gesunden. So ist Diderots Ruf im neunzehnten Jahrhunderte
großer geworden, und so wurde Shakespeare, vergessen zur Zeit von Saint-
Evremont, durch Garrick wieder entdeckt. Es wäre zu wünschen, daß die Briefe
Beyles eiues Tags veröffentlicht würden; sie würden einen Mann bekannt und
lieben machen, dessen Geist und dessen vortreffliche Eigenschaften nur mehr im
Gedächtnisse einer kleinen Anzahl von Freunden lebten.




Das Christenthum und die Religion der Zukunft.
Christenthum und Humanismus. Oder das religiöse Bewußtsein Jesu und die
Erlösungsthatsache des Christenthums. Von Ludwig Noack. Rudolstcidt.
Fröbel. —
System des christlichen Lebens. Von or. Wilhelm Böhmer, Professor der
evangelischen Gottesgcl-ihrtheit und Consistorialrath zu Breslau. — Berlin, Korn.

Zu verschiedenen Zeiten hat man sich Mühe gegeben, die abweichenden Bil-
dungselemente, aus deren Neutralisation in unserer Zeit dasjenige hervorgegangen


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[0348] Er liebte gute Kost: doch schien ihm die Zeit verloren, die man bei Tische verbrachte, und er wünschte, daß, indem man des Morgens einen Bissen verschlang, man den ganzen Tag nicht mehr vom Hunger geplagt werde. Heute ist man Feinschmecker und rühmt sich dessen. Zur Zeit Beyles machten die Männer auf Energie und Muth Anspruch. Wie sollte man auch zu Felde ziehen, wenn man Gastronom ist. Die Polizei des Kaiserreichs drang überall hin, wie man behauptete, und Fouche wußte alles, was man in den Salons von Paris sagte. Beyle war überzeugt, daß dieses riesenhafte Spionirsystem seine geheime Gewalt behalten habe. Er umgab sich auch mit den kleinlichste» Vorsichtsmaßregeln selbst für die gleichgiltigsten Handlungen. Niemals schrieb er einen Brief, ohne mit einem erdichteten Namen zu unter- zeichnen: Cesar, Boudet, Colonel n. s. w. Er datirte seine Briefe ans Abeille statt aus und oft begann er mit einer Phrase wie folgende: „Ich habe Ihre rohe Seide empfangen und habe sie in die Magazine bringe» lassen, bis sie eingeschifft werden soll." Alle seine Freunde hatten einen Kricgsnamen und niemals nannte er sie anders. Niemand wußte genau, mit was für Leuten er verkehrte, was für Bücher er" geschrieben, was für Reisen er gemacht hatte. Ich bilde mir ein, daß irgend ein Kritiker des zwanzigsten Jahrhunderts die Bücher Beyles entdecken werde unter dem Wüste der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, um ihnen die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie bei ihren Zeitgenossen nicht gesunden. So ist Diderots Ruf im neunzehnten Jahrhunderte großer geworden, und so wurde Shakespeare, vergessen zur Zeit von Saint- Evremont, durch Garrick wieder entdeckt. Es wäre zu wünschen, daß die Briefe Beyles eiues Tags veröffentlicht würden; sie würden einen Mann bekannt und lieben machen, dessen Geist und dessen vortreffliche Eigenschaften nur mehr im Gedächtnisse einer kleinen Anzahl von Freunden lebten. Das Christenthum und die Religion der Zukunft. Christenthum und Humanismus. Oder das religiöse Bewußtsein Jesu und die Erlösungsthatsache des Christenthums. Von Ludwig Noack. Rudolstcidt. Fröbel. — System des christlichen Lebens. Von or. Wilhelm Böhmer, Professor der evangelischen Gottesgcl-ihrtheit und Consistorialrath zu Breslau. — Berlin, Korn. Zu verschiedenen Zeiten hat man sich Mühe gegeben, die abweichenden Bil- dungselemente, aus deren Neutralisation in unserer Zeit dasjenige hervorgegangen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/348>, abgerufen am 23.07.2024.