Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

daß er französische Verse verstümmelte, die er citirte. Er kannte weder das
Metrum noch die Accentnirnng der englischen und italienischen Verse, und doch
war er für gewisse Schönheiten von Shakspeare und Dante empfänglich, die
innig mit der Form des Verses verbunden waren. Er hat sein letztes Wort
über die Poesie in seinem Buche über die Liebe gesagt: "die Verse wurden
erfunden, um dem Gedächtnisse zu Hilfe zukommen; sie in der dramatischen Kunst
beizubehalten, ist ein Ueberrest von Barbarei." Racine mißfiel ihm in hohem
Grade. Den großen Vorwurf, den wir diesem gegen 1820 gemacht, ist, daß er
gegen ,,die Sitten" verstoße oder, wie wir in unserem romantischen Jargon
sagten, gegen die Localfarbe. Shakspeare, den wir stets Racine entgegen hielten,
Hat in dieser Beziehung noch hundertmal größere Verstöße gemacht. "Aber,
sagte Beyle, "Shakspeare hat das menschliche Herz besser gekannt. Es gibt kein
Gefühl, keine Leidenschaft, die er nicht mit wunderbarer Wahrheit geschildert
hätte. Das Leben und die Individualität seiner Persönlichkeiten erheben- ihn
über alle dramatische Schriftsteller". Und Molisre? antwortete man. "Moliöre ist
ein Spitzbube, der den "Courtisan" nicht aufführen wollte, weil Ludwig XIV. ihn
nicht gut fand."

Im Leben hatte Beyle eine Reihe von allgemeinen Maximen, die man un¬
bedingt beobachten müsse, ohne sie weiter zu discutiren, sagte er, sowie man sie
einmal als bequem erkannt. Er gestattete kaum zu prüfen, ob der specielle Fall
auf eine seiner allgemeinen Theorien passe.

Bis zu dreißig Jahren wollte er, daß ein Mann, der sich mit einer Frau
allein befindet, versuche, bei ihr anzukommen. Dies gelingt einmal unter zehn
Versuchen, meinte er, und die Aussicht, einmal zu reussiren, verlohnt wohl der
Mühe, sich neun Niederlagen gefallen zu lassen. Niemals eine Lüge verzeihen;
nie etwas bereuen; bei der ersten Gelegenheit Händel anfangen beim Eintritt"? in
die Welt, sind einige seiner Maximen.

Er machte sich über mich lustig, als er sah, daß ich zu fünfundzwanzig
Jahren Griechisch studirte. "Sie sind aus dem Schlachtfelde", sagte er mir,
"jetzt ist nicht mehr der Augenblick, Ihr Gewehr zu putzen, jetzt müssen Sie
schießen."

Er hatte wie viele andere in seiner Jugend an falscher Scham gelitten. Es
ist für einen jungen Mann schwer, in einen Salon zu treten. Er bildet sich ein,
daß man ihn betrachte und fürchtet immer, nicht correct zu sein. "Ich rathe
Ihnen, sagte er mir, mit der Attitüde einzutreten, welche Sie der Zufall im Vor¬
zimmer nehmen ließ, schicklich oder nicht, das ist gleichviel. Seien Sie wie die
Statuen des Commandeurs und wechseln Sie Ihre Haltung erst, wenn die Be¬
wegung des Eintritts vorüber ist." Er hatte ein anderes Recept für die Duelle:
,,während man ans Sie zielt, betrachten Sie einen Baum und bemühen Sie sich,
die Blätter daran zu zählen."


daß er französische Verse verstümmelte, die er citirte. Er kannte weder das
Metrum noch die Accentnirnng der englischen und italienischen Verse, und doch
war er für gewisse Schönheiten von Shakspeare und Dante empfänglich, die
innig mit der Form des Verses verbunden waren. Er hat sein letztes Wort
über die Poesie in seinem Buche über die Liebe gesagt: „die Verse wurden
erfunden, um dem Gedächtnisse zu Hilfe zukommen; sie in der dramatischen Kunst
beizubehalten, ist ein Ueberrest von Barbarei." Racine mißfiel ihm in hohem
Grade. Den großen Vorwurf, den wir diesem gegen 1820 gemacht, ist, daß er
gegen ,,die Sitten" verstoße oder, wie wir in unserem romantischen Jargon
sagten, gegen die Localfarbe. Shakspeare, den wir stets Racine entgegen hielten,
Hat in dieser Beziehung noch hundertmal größere Verstöße gemacht. „Aber,
sagte Beyle, „Shakspeare hat das menschliche Herz besser gekannt. Es gibt kein
Gefühl, keine Leidenschaft, die er nicht mit wunderbarer Wahrheit geschildert
hätte. Das Leben und die Individualität seiner Persönlichkeiten erheben- ihn
über alle dramatische Schriftsteller". Und Molisre? antwortete man. „Moliöre ist
ein Spitzbube, der den „Courtisan" nicht aufführen wollte, weil Ludwig XIV. ihn
nicht gut fand."

Im Leben hatte Beyle eine Reihe von allgemeinen Maximen, die man un¬
bedingt beobachten müsse, ohne sie weiter zu discutiren, sagte er, sowie man sie
einmal als bequem erkannt. Er gestattete kaum zu prüfen, ob der specielle Fall
auf eine seiner allgemeinen Theorien passe.

Bis zu dreißig Jahren wollte er, daß ein Mann, der sich mit einer Frau
allein befindet, versuche, bei ihr anzukommen. Dies gelingt einmal unter zehn
Versuchen, meinte er, und die Aussicht, einmal zu reussiren, verlohnt wohl der
Mühe, sich neun Niederlagen gefallen zu lassen. Niemals eine Lüge verzeihen;
nie etwas bereuen; bei der ersten Gelegenheit Händel anfangen beim Eintritt«? in
die Welt, sind einige seiner Maximen.

Er machte sich über mich lustig, als er sah, daß ich zu fünfundzwanzig
Jahren Griechisch studirte. „Sie sind aus dem Schlachtfelde", sagte er mir,
„jetzt ist nicht mehr der Augenblick, Ihr Gewehr zu putzen, jetzt müssen Sie
schießen."

Er hatte wie viele andere in seiner Jugend an falscher Scham gelitten. Es
ist für einen jungen Mann schwer, in einen Salon zu treten. Er bildet sich ein,
daß man ihn betrachte und fürchtet immer, nicht correct zu sein. „Ich rathe
Ihnen, sagte er mir, mit der Attitüde einzutreten, welche Sie der Zufall im Vor¬
zimmer nehmen ließ, schicklich oder nicht, das ist gleichviel. Seien Sie wie die
Statuen des Commandeurs und wechseln Sie Ihre Haltung erst, wenn die Be¬
wegung des Eintritts vorüber ist." Er hatte ein anderes Recept für die Duelle:
,,während man ans Sie zielt, betrachten Sie einen Baum und bemühen Sie sich,
die Blätter daran zu zählen."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0347" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96522"/>
          <p xml:id="ID_1218" prev="#ID_1217"> daß er französische Verse verstümmelte, die er citirte. Er kannte weder das<lb/>
Metrum noch die Accentnirnng der englischen und italienischen Verse, und doch<lb/>
war er für gewisse Schönheiten von Shakspeare und Dante empfänglich, die<lb/>
innig mit der Form des Verses verbunden waren. Er hat sein letztes Wort<lb/>
über die Poesie in seinem Buche über die Liebe gesagt: &#x201E;die Verse wurden<lb/>
erfunden, um dem Gedächtnisse zu Hilfe zukommen; sie in der dramatischen Kunst<lb/>
beizubehalten, ist ein Ueberrest von Barbarei." Racine mißfiel ihm in hohem<lb/>
Grade. Den großen Vorwurf, den wir diesem gegen 1820 gemacht, ist, daß er<lb/>
gegen ,,die Sitten" verstoße oder, wie wir in unserem romantischen Jargon<lb/>
sagten, gegen die Localfarbe. Shakspeare, den wir stets Racine entgegen hielten,<lb/>
Hat in dieser Beziehung noch hundertmal größere Verstöße gemacht. &#x201E;Aber,<lb/>
sagte Beyle, &#x201E;Shakspeare hat das menschliche Herz besser gekannt. Es gibt kein<lb/>
Gefühl, keine Leidenschaft, die er nicht mit wunderbarer Wahrheit geschildert<lb/>
hätte. Das Leben und die Individualität seiner Persönlichkeiten erheben- ihn<lb/>
über alle dramatische Schriftsteller". Und Molisre? antwortete man. &#x201E;Moliöre ist<lb/>
ein Spitzbube, der den &#x201E;Courtisan" nicht aufführen wollte, weil Ludwig XIV. ihn<lb/>
nicht gut fand."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1219"> Im Leben hatte Beyle eine Reihe von allgemeinen Maximen, die man un¬<lb/>
bedingt beobachten müsse, ohne sie weiter zu discutiren, sagte er, sowie man sie<lb/>
einmal als bequem erkannt. Er gestattete kaum zu prüfen, ob der specielle Fall<lb/>
auf eine seiner allgemeinen Theorien passe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1220"> Bis zu dreißig Jahren wollte er, daß ein Mann, der sich mit einer Frau<lb/>
allein befindet, versuche, bei ihr anzukommen. Dies gelingt einmal unter zehn<lb/>
Versuchen, meinte er, und die Aussicht, einmal zu reussiren, verlohnt wohl der<lb/>
Mühe, sich neun Niederlagen gefallen zu lassen. Niemals eine Lüge verzeihen;<lb/>
nie etwas bereuen; bei der ersten Gelegenheit Händel anfangen beim Eintritt«? in<lb/>
die Welt, sind einige seiner Maximen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1221"> Er machte sich über mich lustig, als er sah, daß ich zu fünfundzwanzig<lb/>
Jahren Griechisch studirte. &#x201E;Sie sind aus dem Schlachtfelde", sagte er mir,<lb/>
&#x201E;jetzt ist nicht mehr der Augenblick, Ihr Gewehr zu putzen, jetzt müssen Sie<lb/>
schießen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1222"> Er hatte wie viele andere in seiner Jugend an falscher Scham gelitten. Es<lb/>
ist für einen jungen Mann schwer, in einen Salon zu treten. Er bildet sich ein,<lb/>
daß man ihn betrachte und fürchtet immer, nicht correct zu sein. &#x201E;Ich rathe<lb/>
Ihnen, sagte er mir, mit der Attitüde einzutreten, welche Sie der Zufall im Vor¬<lb/>
zimmer nehmen ließ, schicklich oder nicht, das ist gleichviel. Seien Sie wie die<lb/>
Statuen des Commandeurs und wechseln Sie Ihre Haltung erst, wenn die Be¬<lb/>
wegung des Eintritts vorüber ist." Er hatte ein anderes Recept für die Duelle:<lb/>
,,während man ans Sie zielt, betrachten Sie einen Baum und bemühen Sie sich,<lb/>
die Blätter daran zu zählen."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0347] daß er französische Verse verstümmelte, die er citirte. Er kannte weder das Metrum noch die Accentnirnng der englischen und italienischen Verse, und doch war er für gewisse Schönheiten von Shakspeare und Dante empfänglich, die innig mit der Form des Verses verbunden waren. Er hat sein letztes Wort über die Poesie in seinem Buche über die Liebe gesagt: „die Verse wurden erfunden, um dem Gedächtnisse zu Hilfe zukommen; sie in der dramatischen Kunst beizubehalten, ist ein Ueberrest von Barbarei." Racine mißfiel ihm in hohem Grade. Den großen Vorwurf, den wir diesem gegen 1820 gemacht, ist, daß er gegen ,,die Sitten" verstoße oder, wie wir in unserem romantischen Jargon sagten, gegen die Localfarbe. Shakspeare, den wir stets Racine entgegen hielten, Hat in dieser Beziehung noch hundertmal größere Verstöße gemacht. „Aber, sagte Beyle, „Shakspeare hat das menschliche Herz besser gekannt. Es gibt kein Gefühl, keine Leidenschaft, die er nicht mit wunderbarer Wahrheit geschildert hätte. Das Leben und die Individualität seiner Persönlichkeiten erheben- ihn über alle dramatische Schriftsteller". Und Molisre? antwortete man. „Moliöre ist ein Spitzbube, der den „Courtisan" nicht aufführen wollte, weil Ludwig XIV. ihn nicht gut fand." Im Leben hatte Beyle eine Reihe von allgemeinen Maximen, die man un¬ bedingt beobachten müsse, ohne sie weiter zu discutiren, sagte er, sowie man sie einmal als bequem erkannt. Er gestattete kaum zu prüfen, ob der specielle Fall auf eine seiner allgemeinen Theorien passe. Bis zu dreißig Jahren wollte er, daß ein Mann, der sich mit einer Frau allein befindet, versuche, bei ihr anzukommen. Dies gelingt einmal unter zehn Versuchen, meinte er, und die Aussicht, einmal zu reussiren, verlohnt wohl der Mühe, sich neun Niederlagen gefallen zu lassen. Niemals eine Lüge verzeihen; nie etwas bereuen; bei der ersten Gelegenheit Händel anfangen beim Eintritt«? in die Welt, sind einige seiner Maximen. Er machte sich über mich lustig, als er sah, daß ich zu fünfundzwanzig Jahren Griechisch studirte. „Sie sind aus dem Schlachtfelde", sagte er mir, „jetzt ist nicht mehr der Augenblick, Ihr Gewehr zu putzen, jetzt müssen Sie schießen." Er hatte wie viele andere in seiner Jugend an falscher Scham gelitten. Es ist für einen jungen Mann schwer, in einen Salon zu treten. Er bildet sich ein, daß man ihn betrachte und fürchtet immer, nicht correct zu sein. „Ich rathe Ihnen, sagte er mir, mit der Attitüde einzutreten, welche Sie der Zufall im Vor¬ zimmer nehmen ließ, schicklich oder nicht, das ist gleichviel. Seien Sie wie die Statuen des Commandeurs und wechseln Sie Ihre Haltung erst, wenn die Be¬ wegung des Eintritts vorüber ist." Er hatte ein anderes Recept für die Duelle: ,,während man ans Sie zielt, betrachten Sie einen Baum und bemühen Sie sich, die Blätter daran zu zählen."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/347
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/347>, abgerufen am 23.07.2024.