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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Er war sehr heiter in der Welt, oft närrisch und vernachlässigte zu sehr die
Schicklichkeiten und die Empfindlichkeiten. Obgleich er selbst Schonung für nie¬
mand kannte, war er doch leicht durch ein Wort verletzt, das ohne Bosheit ent¬
schlüpfte. "Ich bin ein junger Hund," sagte er mir, "der spielt und mau beißt
mich." Er vergaß, daß er zuweilen selbst biß und ganz fest. Er begriff es eben
gar nicht, daß man eine andere Meinung von den Dingen haben könne, als er
selbst. So zum Beispiel konnte er niemals glauben, daß es wirklich Fromme
gebe. Ein Geistlicher und ein Royalist waren stets Heuchler für ihn.

Seine Meinungen über die Künste und die Literatur habe" als kühne Ketze¬
reien gegolten, als er sie vorbrachte. Heute haben einige dieser Urtheile das
Ansehen von Wahrheiten des Herrn de la Palisse (handgreifliche Wahrheiten).
Als er Mozart, Cimarosa und Rossini über die Fabrikanten komischer Opern in
unserer Jugendzeit stellte, brachte er einen wahren Sturm hervor. Damals klagte
man ihn besonders an, keine französischen Gefühle zu haben.

Und doch ist er sehr Franzose in seinen Meinungen über die Malerei, trotz¬
dem er vorgibt, sie als Italiener zu beurtheilen. Er würdigt die meisten mit
französischen Ideen, daß heißt vom literarischen Standpunkte. Die Gemälde der
italienischen Schule werden von ihm geprüft, wie Dramen. Dies ist auch die
Art, in Frankreich zu urtheilen, wo man weder das Gefühl der Form, noch einen
angebornen Geschmack für die Farbe hat. Es gehört eine besondere Empfänglichkeit
und eine lauge Uebung dazu, um die Form und die Farbe lieben zu lernen.
Beyle schreibt einer Madonna von Raphael dramatische Leidenschaften zu. Ich
hatte ihn immer beargwohnt, daß er die großen Maler der lombardischen und
florentinischen Schule liebe, weil deren Werke ihn an Dinge denken ließen, an
welche die Meister ohne Zweifel niemals gedacht hatten. Es ist den Franzosen
eigen, alles mit dem Witz zu beurtheilen. Doch ist billig hinzuzufügen, daß es
keine Sprache gibt, die im Stande wäre, die Feinheit der Form oder die Ver¬
schiedenheit der Wirkungen der Farbe wiederzugeben. Weil man nicht ausdrücke"
kauu, was man empfindet, beschreibt man andere Empfindungen, die von aller
Welt verstanden werden können.

Beyle hat mir immer sehr gleichgiltig gegen die Architektur geschienen und
er hatte über diese Kunst blos erborgte Ideen. Ich glaube ihn gelehrt zu
haben, eine romanische Kirche von einer gothischen zu unterscheiden und was
mehr ist, beide zu betrachten. Er warf unsern Kirchen vor, traurig zu sein.

Er begriff die Sculptur von Canova besser, als jede andere, selbst als die
antiken Statuen; vielleicht weil Canova für Schriftsteller gearbeitet hatte. Er
ist mehr mit den Ideen beschäftigt, die er in einem gebildeten Geiste erweckt, als
mit dem Eindrucke, den er auf ein Auge hervorbringt, das die Form liebt und
versteht.

Die Poesie war für Beyle ein verschlossenes Buch. Es geschah ihm oft,


Er war sehr heiter in der Welt, oft närrisch und vernachlässigte zu sehr die
Schicklichkeiten und die Empfindlichkeiten. Obgleich er selbst Schonung für nie¬
mand kannte, war er doch leicht durch ein Wort verletzt, das ohne Bosheit ent¬
schlüpfte. „Ich bin ein junger Hund," sagte er mir, „der spielt und mau beißt
mich." Er vergaß, daß er zuweilen selbst biß und ganz fest. Er begriff es eben
gar nicht, daß man eine andere Meinung von den Dingen haben könne, als er
selbst. So zum Beispiel konnte er niemals glauben, daß es wirklich Fromme
gebe. Ein Geistlicher und ein Royalist waren stets Heuchler für ihn.

Seine Meinungen über die Künste und die Literatur habe» als kühne Ketze¬
reien gegolten, als er sie vorbrachte. Heute haben einige dieser Urtheile das
Ansehen von Wahrheiten des Herrn de la Palisse (handgreifliche Wahrheiten).
Als er Mozart, Cimarosa und Rossini über die Fabrikanten komischer Opern in
unserer Jugendzeit stellte, brachte er einen wahren Sturm hervor. Damals klagte
man ihn besonders an, keine französischen Gefühle zu haben.

Und doch ist er sehr Franzose in seinen Meinungen über die Malerei, trotz¬
dem er vorgibt, sie als Italiener zu beurtheilen. Er würdigt die meisten mit
französischen Ideen, daß heißt vom literarischen Standpunkte. Die Gemälde der
italienischen Schule werden von ihm geprüft, wie Dramen. Dies ist auch die
Art, in Frankreich zu urtheilen, wo man weder das Gefühl der Form, noch einen
angebornen Geschmack für die Farbe hat. Es gehört eine besondere Empfänglichkeit
und eine lauge Uebung dazu, um die Form und die Farbe lieben zu lernen.
Beyle schreibt einer Madonna von Raphael dramatische Leidenschaften zu. Ich
hatte ihn immer beargwohnt, daß er die großen Maler der lombardischen und
florentinischen Schule liebe, weil deren Werke ihn an Dinge denken ließen, an
welche die Meister ohne Zweifel niemals gedacht hatten. Es ist den Franzosen
eigen, alles mit dem Witz zu beurtheilen. Doch ist billig hinzuzufügen, daß es
keine Sprache gibt, die im Stande wäre, die Feinheit der Form oder die Ver¬
schiedenheit der Wirkungen der Farbe wiederzugeben. Weil man nicht ausdrücke»
kauu, was man empfindet, beschreibt man andere Empfindungen, die von aller
Welt verstanden werden können.

Beyle hat mir immer sehr gleichgiltig gegen die Architektur geschienen und
er hatte über diese Kunst blos erborgte Ideen. Ich glaube ihn gelehrt zu
haben, eine romanische Kirche von einer gothischen zu unterscheiden und was
mehr ist, beide zu betrachten. Er warf unsern Kirchen vor, traurig zu sein.

Er begriff die Sculptur von Canova besser, als jede andere, selbst als die
antiken Statuen; vielleicht weil Canova für Schriftsteller gearbeitet hatte. Er
ist mehr mit den Ideen beschäftigt, die er in einem gebildeten Geiste erweckt, als
mit dem Eindrucke, den er auf ein Auge hervorbringt, das die Form liebt und
versteht.

Die Poesie war für Beyle ein verschlossenes Buch. Es geschah ihm oft,


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[0346] Er war sehr heiter in der Welt, oft närrisch und vernachlässigte zu sehr die Schicklichkeiten und die Empfindlichkeiten. Obgleich er selbst Schonung für nie¬ mand kannte, war er doch leicht durch ein Wort verletzt, das ohne Bosheit ent¬ schlüpfte. „Ich bin ein junger Hund," sagte er mir, „der spielt und mau beißt mich." Er vergaß, daß er zuweilen selbst biß und ganz fest. Er begriff es eben gar nicht, daß man eine andere Meinung von den Dingen haben könne, als er selbst. So zum Beispiel konnte er niemals glauben, daß es wirklich Fromme gebe. Ein Geistlicher und ein Royalist waren stets Heuchler für ihn. Seine Meinungen über die Künste und die Literatur habe» als kühne Ketze¬ reien gegolten, als er sie vorbrachte. Heute haben einige dieser Urtheile das Ansehen von Wahrheiten des Herrn de la Palisse (handgreifliche Wahrheiten). Als er Mozart, Cimarosa und Rossini über die Fabrikanten komischer Opern in unserer Jugendzeit stellte, brachte er einen wahren Sturm hervor. Damals klagte man ihn besonders an, keine französischen Gefühle zu haben. Und doch ist er sehr Franzose in seinen Meinungen über die Malerei, trotz¬ dem er vorgibt, sie als Italiener zu beurtheilen. Er würdigt die meisten mit französischen Ideen, daß heißt vom literarischen Standpunkte. Die Gemälde der italienischen Schule werden von ihm geprüft, wie Dramen. Dies ist auch die Art, in Frankreich zu urtheilen, wo man weder das Gefühl der Form, noch einen angebornen Geschmack für die Farbe hat. Es gehört eine besondere Empfänglichkeit und eine lauge Uebung dazu, um die Form und die Farbe lieben zu lernen. Beyle schreibt einer Madonna von Raphael dramatische Leidenschaften zu. Ich hatte ihn immer beargwohnt, daß er die großen Maler der lombardischen und florentinischen Schule liebe, weil deren Werke ihn an Dinge denken ließen, an welche die Meister ohne Zweifel niemals gedacht hatten. Es ist den Franzosen eigen, alles mit dem Witz zu beurtheilen. Doch ist billig hinzuzufügen, daß es keine Sprache gibt, die im Stande wäre, die Feinheit der Form oder die Ver¬ schiedenheit der Wirkungen der Farbe wiederzugeben. Weil man nicht ausdrücke» kauu, was man empfindet, beschreibt man andere Empfindungen, die von aller Welt verstanden werden können. Beyle hat mir immer sehr gleichgiltig gegen die Architektur geschienen und er hatte über diese Kunst blos erborgte Ideen. Ich glaube ihn gelehrt zu haben, eine romanische Kirche von einer gothischen zu unterscheiden und was mehr ist, beide zu betrachten. Er warf unsern Kirchen vor, traurig zu sein. Er begriff die Sculptur von Canova besser, als jede andere, selbst als die antiken Statuen; vielleicht weil Canova für Schriftsteller gearbeitet hatte. Er ist mehr mit den Ideen beschäftigt, die er in einem gebildeten Geiste erweckt, als mit dem Eindrucke, den er auf ein Auge hervorbringt, das die Form liebt und versteht. Die Poesie war für Beyle ein verschlossenes Buch. Es geschah ihm oft,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/346>, abgerufen am 23.07.2024.