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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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den Differenzen erfolgen wird, obgleich wir allerdings unsere Ueberzeugung
nicht verhehlen können, daß Rußland dadurch einen bedeutenden Fortschritt
in seiner Herrschaft über die Türkei machen wird; aber die Ausgleichung wird
erfolgen.

Indeß mit dieser vorläufigen Lösung ist die Sache nicht abgemacht. Wenn die
Liberalen in sämmtlichen Staaten sich diesmal auf Seite der Türkei gegen Rußland
gestellt haben, so können wir unsere Augen doch unmöglich vor der Einsicht verschlie¬
ßen, daß der Untergang des türkischen Reichs in der nächsten Zeit eine nicht it?ehr
abwendbare Thatsache ist. Die Herrschaft eines kleinen Stammes über zahlreiche
unterworfene Stämme erhalt den ersten Schlag durch die Entnervung des erstem
den zweiten entscheidenden durch die Aufstellung eines gemeinsamen Feldzeichens für
die letzteren. Das Erste ist seit vielen Generationen nicht mehr abzuleugnen,
das Letztere ist dnrch die griechische Kirche und die russische Protection soweit
vorbereitet, daß es nicht mehr lange ans sich wird warten lassen. Sobald die
Sache soweit gekommen ist, daß es nur noch eines kleinen Anstoßes von Ru߬
land bedarf, um eine allgemeine Erhebung der griechischen und slavischen Christen
gegen die Türken zu veranlassen und ihre Leitung in die Hand zu nehmen, so
wird auch eine Einmischung der westeuropäischen Mächte nichts mehr fruchten,
denn sie werden schwerlich mit Gewalt die Christen in die Botmäßigkeit der
Türken zurückbringen wollen. Es gilt also nicht, den Untergang der Türkei über¬
haupt abzuwenden, sondern nur die Stellung der europäischen Mächte so vor¬
zubereiten, daß die ganze Beute nicht Rußland in die Hände fällt.

Unter allen europäischen Mächten muß zunächst Oestreich und England daran
gelegen sein, daß Rußland nicht die Türkei erobert. Die Engländer können
nicht wollen, daß den Russen der Weg zum persischen Meerbusen eröffnet wird,
und für Oestreich ist die Sache noch ernster. Wenn es überhaupt an die Mög¬
lichkeit seiner staatlichen Existenz glaubt, so muß es die slavischen Greuzprovinzeu,
die in tausend Beziehungen mit den türkischen stehen, dnrch die Erwerbung der
letzteren zu befestigen, seinen Handelsverkehr durch eine Herrschaft über die untere
Donau in eine freie Bahn zu lenken suchen. Die Zusammensetzung des östrei¬
chischen Staats ist von der Art, daß es allmälig entweder sich nach Osten hin
vergrößern, oder seine bisherigen Besitzungen in Frage gestellt scheu muß. Es
kauu der östreichischen Regierung nicht unbekannt sein, daß in ihren slavischen
Grenzprovinzen, nachdem die unschädliche illhrische Schwärmerei beseitigt ist, eine
starke panslavistische, d. h. russische Partei existirt; diese hat freilich, solange
man sich der türkischen Nachbarschaft erfreut, uicht viel zu bedeuten, sobald aber-
Rußland in den Donaufürstenthümer", sowie in Serbien und Bulgarien herrscht,
ist eine allmälige Zerbröckelung Oestreichs vou innen heraus unvermeidlich. Wie
groß die persönliche Freundschaft der beiden Monarchen, wie unzweifelhaft die
wohlwollenden Absichten des Kaiser Nikolaus sür Oestreich, wie mächtig die Dank-


den Differenzen erfolgen wird, obgleich wir allerdings unsere Ueberzeugung
nicht verhehlen können, daß Rußland dadurch einen bedeutenden Fortschritt
in seiner Herrschaft über die Türkei machen wird; aber die Ausgleichung wird
erfolgen.

Indeß mit dieser vorläufigen Lösung ist die Sache nicht abgemacht. Wenn die
Liberalen in sämmtlichen Staaten sich diesmal auf Seite der Türkei gegen Rußland
gestellt haben, so können wir unsere Augen doch unmöglich vor der Einsicht verschlie¬
ßen, daß der Untergang des türkischen Reichs in der nächsten Zeit eine nicht it?ehr
abwendbare Thatsache ist. Die Herrschaft eines kleinen Stammes über zahlreiche
unterworfene Stämme erhalt den ersten Schlag durch die Entnervung des erstem
den zweiten entscheidenden durch die Aufstellung eines gemeinsamen Feldzeichens für
die letzteren. Das Erste ist seit vielen Generationen nicht mehr abzuleugnen,
das Letztere ist dnrch die griechische Kirche und die russische Protection soweit
vorbereitet, daß es nicht mehr lange ans sich wird warten lassen. Sobald die
Sache soweit gekommen ist, daß es nur noch eines kleinen Anstoßes von Ru߬
land bedarf, um eine allgemeine Erhebung der griechischen und slavischen Christen
gegen die Türken zu veranlassen und ihre Leitung in die Hand zu nehmen, so
wird auch eine Einmischung der westeuropäischen Mächte nichts mehr fruchten,
denn sie werden schwerlich mit Gewalt die Christen in die Botmäßigkeit der
Türken zurückbringen wollen. Es gilt also nicht, den Untergang der Türkei über¬
haupt abzuwenden, sondern nur die Stellung der europäischen Mächte so vor¬
zubereiten, daß die ganze Beute nicht Rußland in die Hände fällt.

Unter allen europäischen Mächten muß zunächst Oestreich und England daran
gelegen sein, daß Rußland nicht die Türkei erobert. Die Engländer können
nicht wollen, daß den Russen der Weg zum persischen Meerbusen eröffnet wird,
und für Oestreich ist die Sache noch ernster. Wenn es überhaupt an die Mög¬
lichkeit seiner staatlichen Existenz glaubt, so muß es die slavischen Greuzprovinzeu,
die in tausend Beziehungen mit den türkischen stehen, dnrch die Erwerbung der
letzteren zu befestigen, seinen Handelsverkehr durch eine Herrschaft über die untere
Donau in eine freie Bahn zu lenken suchen. Die Zusammensetzung des östrei¬
chischen Staats ist von der Art, daß es allmälig entweder sich nach Osten hin
vergrößern, oder seine bisherigen Besitzungen in Frage gestellt scheu muß. Es
kauu der östreichischen Regierung nicht unbekannt sein, daß in ihren slavischen
Grenzprovinzen, nachdem die unschädliche illhrische Schwärmerei beseitigt ist, eine
starke panslavistische, d. h. russische Partei existirt; diese hat freilich, solange
man sich der türkischen Nachbarschaft erfreut, uicht viel zu bedeuten, sobald aber-
Rußland in den Donaufürstenthümer», sowie in Serbien und Bulgarien herrscht,
ist eine allmälige Zerbröckelung Oestreichs vou innen heraus unvermeidlich. Wie
groß die persönliche Freundschaft der beiden Monarchen, wie unzweifelhaft die
wohlwollenden Absichten des Kaiser Nikolaus sür Oestreich, wie mächtig die Dank-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/21>, abgerufen am 03.07.2024.