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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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wenn sie im Anfang auch durch die Neuheit ihrer Erscheinung einen großen Reiz
ausübten. Darum ist auch das historische Drama im strengern Sinne, wie es
die neufranzösischen Romantiker unternommen haben, wo es sich nicht begnügt, ein
historisches Ereigniß zum Träger allgemein menschlicher Leidenschaften und Empfindun¬
gen zu machen, sondern wo es darauf ausgeht, die von den unsrigen abweichenden sitt¬
lichen Bestimmungen einer frühern Zeit zu schildern, durchaus mißglückt. Dem Roman-
schreiber ist es wol verstattet, von uns die Abstractionen von unsern gewöhnlichen
Vorstellungen und Empfindungen zu verlangen, denn er ist im Staude, uus jeden
Augenblick den Contrast der beiden Weltanschauungen lebhaft zu vergegenwärtigen,
darüber zu reflectiren und uus zur Reflexion anzuregen; im Drama dagegen geht die
Handlung vor unsern Angen vor sich, und wenn wir die innern Fäden derselben nicht
verstehn, so kann sie anch unsre Theilnahme nicht erregen, die hier eine unmittel¬
bare sein muß, die keine Sammlung, keine Ueberlegung zuläßt. Die Situationen
kann der Dichter nach Belieben erfinden, oder auch aus der Geschichte nehmen,
wenn er nur die Kunst besitzt, sie uns deutlich zu machen. In den sittlichen
Grundvorstellungen dagegen verstatten wir ihm keine Freiheit, seine Personen
müssen grade so empfinden, wie wir selber empfinden, sonst sind sie bloße
Marionetten für uns. -- Wenn wir ferner dem Roman nicht blos verstatten,
sondern auch an ihn die Forderung stellen, daß er uns die abweichenden Sitten
und Gebräuche der Zeit, in der er spielt, vergegenwärtigt, so darf es doch nur
insoweit geschehen, als es zum Verständniß der handelnden Personen und des
Charakters der ganzen Begebenheit nothwendig ist. Jedes Virtuosenthum in
sinnlichen Eindrücken, das über diese Bedingungen hinausgeht, empfinden wir im
Roman als einen Fehler.

Nun sind aber die sinnlichen Eindrücke an sich keineswegs unpoetisch, auch
das Materielle hat seine Berechtigung, wenn es vom Geist in Bewegung gesetzt
wird. Zur Verwendung dieses poetischen Elements bietet sich am bequemsten die
Form des romantischen Epos. Betrachten wir, um uns nicht ins allgemeine zu
verlieren, das beste unter Walter Scotts Gedichten. "Das Fräulein vom See",
welches uns in einer neuen vortrefflichen Uebersetzung vorliegt, von derselben
Dichterin, der wir auch die früher von uns angeführte Uebersetzung des Corsaren
verdanken. Das Juteresse liegt in diesem schönen Gedicht keineswegs in der
sorgfältigen psychologischen Zeichnung der Charaktere, über welche Walter Scott
sonst mit so souveräner Gewalt verfügt; das innere Wesen der Personen ist hier
vielmehr ganz flüchtig, fast leichtsinnig skizzirt. Es liegt auch nicht in dem sittlichen
Ernst, in der tragischen Auffassung der Conflicte und Verhältnisse; denn der
eigentliche Kern der Begebenheit erregt nur ein oberflächliches Interesse, und wir
kommen gar nicht darauf, zu fragen, wer von den streitenden Parteien eigentlich
Recht, und wer Unrecht hat. Der Reiz liegt vielmehr lediglich in dem plastischen
sinnlichen Eindruck der einzelnen Scenen. Walter Scott hat eine Reihe Von


wenn sie im Anfang auch durch die Neuheit ihrer Erscheinung einen großen Reiz
ausübten. Darum ist auch das historische Drama im strengern Sinne, wie es
die neufranzösischen Romantiker unternommen haben, wo es sich nicht begnügt, ein
historisches Ereigniß zum Träger allgemein menschlicher Leidenschaften und Empfindun¬
gen zu machen, sondern wo es darauf ausgeht, die von den unsrigen abweichenden sitt¬
lichen Bestimmungen einer frühern Zeit zu schildern, durchaus mißglückt. Dem Roman-
schreiber ist es wol verstattet, von uns die Abstractionen von unsern gewöhnlichen
Vorstellungen und Empfindungen zu verlangen, denn er ist im Staude, uus jeden
Augenblick den Contrast der beiden Weltanschauungen lebhaft zu vergegenwärtigen,
darüber zu reflectiren und uus zur Reflexion anzuregen; im Drama dagegen geht die
Handlung vor unsern Angen vor sich, und wenn wir die innern Fäden derselben nicht
verstehn, so kann sie anch unsre Theilnahme nicht erregen, die hier eine unmittel¬
bare sein muß, die keine Sammlung, keine Ueberlegung zuläßt. Die Situationen
kann der Dichter nach Belieben erfinden, oder auch aus der Geschichte nehmen,
wenn er nur die Kunst besitzt, sie uns deutlich zu machen. In den sittlichen
Grundvorstellungen dagegen verstatten wir ihm keine Freiheit, seine Personen
müssen grade so empfinden, wie wir selber empfinden, sonst sind sie bloße
Marionetten für uns. — Wenn wir ferner dem Roman nicht blos verstatten,
sondern auch an ihn die Forderung stellen, daß er uns die abweichenden Sitten
und Gebräuche der Zeit, in der er spielt, vergegenwärtigt, so darf es doch nur
insoweit geschehen, als es zum Verständniß der handelnden Personen und des
Charakters der ganzen Begebenheit nothwendig ist. Jedes Virtuosenthum in
sinnlichen Eindrücken, das über diese Bedingungen hinausgeht, empfinden wir im
Roman als einen Fehler.

Nun sind aber die sinnlichen Eindrücke an sich keineswegs unpoetisch, auch
das Materielle hat seine Berechtigung, wenn es vom Geist in Bewegung gesetzt
wird. Zur Verwendung dieses poetischen Elements bietet sich am bequemsten die
Form des romantischen Epos. Betrachten wir, um uns nicht ins allgemeine zu
verlieren, das beste unter Walter Scotts Gedichten. „Das Fräulein vom See",
welches uns in einer neuen vortrefflichen Uebersetzung vorliegt, von derselben
Dichterin, der wir auch die früher von uns angeführte Uebersetzung des Corsaren
verdanken. Das Juteresse liegt in diesem schönen Gedicht keineswegs in der
sorgfältigen psychologischen Zeichnung der Charaktere, über welche Walter Scott
sonst mit so souveräner Gewalt verfügt; das innere Wesen der Personen ist hier
vielmehr ganz flüchtig, fast leichtsinnig skizzirt. Es liegt auch nicht in dem sittlichen
Ernst, in der tragischen Auffassung der Conflicte und Verhältnisse; denn der
eigentliche Kern der Begebenheit erregt nur ein oberflächliches Interesse, und wir
kommen gar nicht darauf, zu fragen, wer von den streitenden Parteien eigentlich
Recht, und wer Unrecht hat. Der Reiz liegt vielmehr lediglich in dem plastischen
sinnlichen Eindruck der einzelnen Scenen. Walter Scott hat eine Reihe Von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/143>, abgerufen am 03.07.2024.