Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Gegen diese Bezeichnung haben zwar die Kritiker aus der romantischen
Schule ebenso Protest erhoben, wie gegen die Bezeichnung der didaktischen Poesie;
sie haben auch insofern vollkommen recht, als weder die bloße Beschreibung, noch
die bloße Belehrung Aufgabe der Poesie sein kann. Das Wesen der Poesie liegt
in der Bewegung, und wo sie Interesse an Zuständen, an Situationen, an all¬
gemeinen Ideen erregen will, muß sie dieselbe" in Leben und Bewegung ümm>
setzen verstehen. Insofern ist die Grundlage aller Poesie episch-dramatisch, und
zwar dehnt sich das bis auf das kleinste Gedicht aus, denn auch dieses wird eine
Seelenbewegung darstellen müssen, wie es bei Goethe und bei den bessern Liedern
von Uhland und Heine stets der Fall ist, es wird der Romanze zustreben. Die
beliebteste Form der Lyrik, die wir den Romantikern verdanken, ein Thema mit
Variationen, ist ganz und gar nicht poetisch, weil es keine Bewegung enthält.

Unter den Dichtungsarten der modernen Poesie scheinen uus, wenn wir von
der didaktischen Gattung in der Weise Schillers, der wir gleichfalls eine große
Berechtigung zugestehen, deren Besprechung uns aber hier zu weit führen würde,
absehen wollen, keine eine so große Zukunft zu haben, als das Drama, der
Roman und das romantische Epos. Das Interesse im Drama wird vorzugsweise
in den großen Leidenschaften und in deren Conflict mit den der menschlichen
Natur angebornen und unabänderlichen sittlichen Gesetzen beruhen, während im
Roman wie im Lustspiel dieses große sittliche Gesetz eine bedingte, endliche, der
Zeit und der Lvialität angehörige Modification annimmt und demnach auch den
Leidenschaften eine bedingte, endliche Richtung gibt. In beiden Dichtungsarten
muß das geistige, psychologische Interesse vorherrschen, nur daß das Drama aus
vollem Holze schneidet, während der Roman und das Lustspiel sich durch Sauber¬
keit der Detailarbeit auszeichnen müssen. Im Drama darf das sittliche Gesetz
nicht in Frage gestellt werden, wir müssen es mitbringen, um ein unzweifelhaftes
Urtheil über die vor uusern Augen vorgehende Handlung zu fällen; im Roman
dagegen ist das durch die Zeit modificirte Sittengesetz und sein Einfluß auf die
individuellen Charaktere und Leidenschaften der eigentliche Gegenstand der Dar¬
stellung, und je feiner der Dichter dasselbe zu zergliedern versteht, desto lebhafter
wird er unser Interesse in Anspruch nehmen.

Aus dem Gegebenen geht hervor, daß die modernen Versuche, den Roman
und namentlich das Drama zu materialiflreu, der Natur dieser Dichtungsarten
widerstreben. In beiden muß ich, um wahrhaft ergriffen zu werden, mit ganzer
Seele dabei sei", ich muß mit meinem Verstände vollständig der Situation und
ihren Verwickelungen folgen, ich muß in meinem Gewissen die Motive der
handelnden Personen vollständig in Erwägung ziehen können. Wo mein Gewissen
und mein Verstand mir nicht mehr die Handlungsweise vermitteln, hört meine
Theilnahme überhaupt ans. Darum sind alle neuern Versuche, im Drama durch
unmittelbare sinnliche Einwirkungen die Phantasie bestimmen zu wollen, gescheitert,


Gegen diese Bezeichnung haben zwar die Kritiker aus der romantischen
Schule ebenso Protest erhoben, wie gegen die Bezeichnung der didaktischen Poesie;
sie haben auch insofern vollkommen recht, als weder die bloße Beschreibung, noch
die bloße Belehrung Aufgabe der Poesie sein kann. Das Wesen der Poesie liegt
in der Bewegung, und wo sie Interesse an Zuständen, an Situationen, an all¬
gemeinen Ideen erregen will, muß sie dieselbe» in Leben und Bewegung ümm>
setzen verstehen. Insofern ist die Grundlage aller Poesie episch-dramatisch, und
zwar dehnt sich das bis auf das kleinste Gedicht aus, denn auch dieses wird eine
Seelenbewegung darstellen müssen, wie es bei Goethe und bei den bessern Liedern
von Uhland und Heine stets der Fall ist, es wird der Romanze zustreben. Die
beliebteste Form der Lyrik, die wir den Romantikern verdanken, ein Thema mit
Variationen, ist ganz und gar nicht poetisch, weil es keine Bewegung enthält.

Unter den Dichtungsarten der modernen Poesie scheinen uus, wenn wir von
der didaktischen Gattung in der Weise Schillers, der wir gleichfalls eine große
Berechtigung zugestehen, deren Besprechung uns aber hier zu weit führen würde,
absehen wollen, keine eine so große Zukunft zu haben, als das Drama, der
Roman und das romantische Epos. Das Interesse im Drama wird vorzugsweise
in den großen Leidenschaften und in deren Conflict mit den der menschlichen
Natur angebornen und unabänderlichen sittlichen Gesetzen beruhen, während im
Roman wie im Lustspiel dieses große sittliche Gesetz eine bedingte, endliche, der
Zeit und der Lvialität angehörige Modification annimmt und demnach auch den
Leidenschaften eine bedingte, endliche Richtung gibt. In beiden Dichtungsarten
muß das geistige, psychologische Interesse vorherrschen, nur daß das Drama aus
vollem Holze schneidet, während der Roman und das Lustspiel sich durch Sauber¬
keit der Detailarbeit auszeichnen müssen. Im Drama darf das sittliche Gesetz
nicht in Frage gestellt werden, wir müssen es mitbringen, um ein unzweifelhaftes
Urtheil über die vor uusern Augen vorgehende Handlung zu fällen; im Roman
dagegen ist das durch die Zeit modificirte Sittengesetz und sein Einfluß auf die
individuellen Charaktere und Leidenschaften der eigentliche Gegenstand der Dar¬
stellung, und je feiner der Dichter dasselbe zu zergliedern versteht, desto lebhafter
wird er unser Interesse in Anspruch nehmen.

Aus dem Gegebenen geht hervor, daß die modernen Versuche, den Roman
und namentlich das Drama zu materialiflreu, der Natur dieser Dichtungsarten
widerstreben. In beiden muß ich, um wahrhaft ergriffen zu werden, mit ganzer
Seele dabei sei», ich muß mit meinem Verstände vollständig der Situation und
ihren Verwickelungen folgen, ich muß in meinem Gewissen die Motive der
handelnden Personen vollständig in Erwägung ziehen können. Wo mein Gewissen
und mein Verstand mir nicht mehr die Handlungsweise vermitteln, hört meine
Theilnahme überhaupt ans. Darum sind alle neuern Versuche, im Drama durch
unmittelbare sinnliche Einwirkungen die Phantasie bestimmen zu wollen, gescheitert,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0142" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96317"/>
          <p xml:id="ID_456"> Gegen diese Bezeichnung haben zwar die Kritiker aus der romantischen<lb/>
Schule ebenso Protest erhoben, wie gegen die Bezeichnung der didaktischen Poesie;<lb/>
sie haben auch insofern vollkommen recht, als weder die bloße Beschreibung, noch<lb/>
die bloße Belehrung Aufgabe der Poesie sein kann. Das Wesen der Poesie liegt<lb/>
in der Bewegung, und wo sie Interesse an Zuständen, an Situationen, an all¬<lb/>
gemeinen Ideen erregen will, muß sie dieselbe» in Leben und Bewegung ümm&gt;<lb/>
setzen verstehen. Insofern ist die Grundlage aller Poesie episch-dramatisch, und<lb/>
zwar dehnt sich das bis auf das kleinste Gedicht aus, denn auch dieses wird eine<lb/>
Seelenbewegung darstellen müssen, wie es bei Goethe und bei den bessern Liedern<lb/>
von Uhland und Heine stets der Fall ist, es wird der Romanze zustreben. Die<lb/>
beliebteste Form der Lyrik, die wir den Romantikern verdanken, ein Thema mit<lb/>
Variationen, ist ganz und gar nicht poetisch, weil es keine Bewegung enthält.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_457"> Unter den Dichtungsarten der modernen Poesie scheinen uus, wenn wir von<lb/>
der didaktischen Gattung in der Weise Schillers, der wir gleichfalls eine große<lb/>
Berechtigung zugestehen, deren Besprechung uns aber hier zu weit führen würde,<lb/>
absehen wollen, keine eine so große Zukunft zu haben, als das Drama, der<lb/>
Roman und das romantische Epos. Das Interesse im Drama wird vorzugsweise<lb/>
in den großen Leidenschaften und in deren Conflict mit den der menschlichen<lb/>
Natur angebornen und unabänderlichen sittlichen Gesetzen beruhen, während im<lb/>
Roman wie im Lustspiel dieses große sittliche Gesetz eine bedingte, endliche, der<lb/>
Zeit und der Lvialität angehörige Modification annimmt und demnach auch den<lb/>
Leidenschaften eine bedingte, endliche Richtung gibt. In beiden Dichtungsarten<lb/>
muß das geistige, psychologische Interesse vorherrschen, nur daß das Drama aus<lb/>
vollem Holze schneidet, während der Roman und das Lustspiel sich durch Sauber¬<lb/>
keit der Detailarbeit auszeichnen müssen. Im Drama darf das sittliche Gesetz<lb/>
nicht in Frage gestellt werden, wir müssen es mitbringen, um ein unzweifelhaftes<lb/>
Urtheil über die vor uusern Augen vorgehende Handlung zu fällen; im Roman<lb/>
dagegen ist das durch die Zeit modificirte Sittengesetz und sein Einfluß auf die<lb/>
individuellen Charaktere und Leidenschaften der eigentliche Gegenstand der Dar¬<lb/>
stellung, und je feiner der Dichter dasselbe zu zergliedern versteht, desto lebhafter<lb/>
wird er unser Interesse in Anspruch nehmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_458" next="#ID_459"> Aus dem Gegebenen geht hervor, daß die modernen Versuche, den Roman<lb/>
und namentlich das Drama zu materialiflreu, der Natur dieser Dichtungsarten<lb/>
widerstreben. In beiden muß ich, um wahrhaft ergriffen zu werden, mit ganzer<lb/>
Seele dabei sei», ich muß mit meinem Verstände vollständig der Situation und<lb/>
ihren Verwickelungen folgen, ich muß in meinem Gewissen die Motive der<lb/>
handelnden Personen vollständig in Erwägung ziehen können. Wo mein Gewissen<lb/>
und mein Verstand mir nicht mehr die Handlungsweise vermitteln, hört meine<lb/>
Theilnahme überhaupt ans. Darum sind alle neuern Versuche, im Drama durch<lb/>
unmittelbare sinnliche Einwirkungen die Phantasie bestimmen zu wollen, gescheitert,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0142] Gegen diese Bezeichnung haben zwar die Kritiker aus der romantischen Schule ebenso Protest erhoben, wie gegen die Bezeichnung der didaktischen Poesie; sie haben auch insofern vollkommen recht, als weder die bloße Beschreibung, noch die bloße Belehrung Aufgabe der Poesie sein kann. Das Wesen der Poesie liegt in der Bewegung, und wo sie Interesse an Zuständen, an Situationen, an all¬ gemeinen Ideen erregen will, muß sie dieselbe» in Leben und Bewegung ümm> setzen verstehen. Insofern ist die Grundlage aller Poesie episch-dramatisch, und zwar dehnt sich das bis auf das kleinste Gedicht aus, denn auch dieses wird eine Seelenbewegung darstellen müssen, wie es bei Goethe und bei den bessern Liedern von Uhland und Heine stets der Fall ist, es wird der Romanze zustreben. Die beliebteste Form der Lyrik, die wir den Romantikern verdanken, ein Thema mit Variationen, ist ganz und gar nicht poetisch, weil es keine Bewegung enthält. Unter den Dichtungsarten der modernen Poesie scheinen uus, wenn wir von der didaktischen Gattung in der Weise Schillers, der wir gleichfalls eine große Berechtigung zugestehen, deren Besprechung uns aber hier zu weit führen würde, absehen wollen, keine eine so große Zukunft zu haben, als das Drama, der Roman und das romantische Epos. Das Interesse im Drama wird vorzugsweise in den großen Leidenschaften und in deren Conflict mit den der menschlichen Natur angebornen und unabänderlichen sittlichen Gesetzen beruhen, während im Roman wie im Lustspiel dieses große sittliche Gesetz eine bedingte, endliche, der Zeit und der Lvialität angehörige Modification annimmt und demnach auch den Leidenschaften eine bedingte, endliche Richtung gibt. In beiden Dichtungsarten muß das geistige, psychologische Interesse vorherrschen, nur daß das Drama aus vollem Holze schneidet, während der Roman und das Lustspiel sich durch Sauber¬ keit der Detailarbeit auszeichnen müssen. Im Drama darf das sittliche Gesetz nicht in Frage gestellt werden, wir müssen es mitbringen, um ein unzweifelhaftes Urtheil über die vor uusern Augen vorgehende Handlung zu fällen; im Roman dagegen ist das durch die Zeit modificirte Sittengesetz und sein Einfluß auf die individuellen Charaktere und Leidenschaften der eigentliche Gegenstand der Dar¬ stellung, und je feiner der Dichter dasselbe zu zergliedern versteht, desto lebhafter wird er unser Interesse in Anspruch nehmen. Aus dem Gegebenen geht hervor, daß die modernen Versuche, den Roman und namentlich das Drama zu materialiflreu, der Natur dieser Dichtungsarten widerstreben. In beiden muß ich, um wahrhaft ergriffen zu werden, mit ganzer Seele dabei sei», ich muß mit meinem Verstände vollständig der Situation und ihren Verwickelungen folgen, ich muß in meinem Gewissen die Motive der handelnden Personen vollständig in Erwägung ziehen können. Wo mein Gewissen und mein Verstand mir nicht mehr die Handlungsweise vermitteln, hört meine Theilnahme überhaupt ans. Darum sind alle neuern Versuche, im Drama durch unmittelbare sinnliche Einwirkungen die Phantasie bestimmen zu wollen, gescheitert,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/142
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/142>, abgerufen am 01.07.2024.