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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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rebellisch und widerspenstig wie ein Reichstädter des Mittelalters, wenn diese
Obrigkeit die ihr von tausendjährigem Herkommen gesetzten Schranken über¬
schreitet; er holt sich eine Gattin aus einem Hause, wo in andern Ländern nur
die Verworfensten des weiblichen Geschlechts zu finden sind, aber beurtheilt eine
Verletzung der ehelichen Treue mit der Streuge eines Puritaners und rächt sie
mit der unerbittlichen Härte eines spanischen Hidalgo; er ist nicht religiös im
Herzen, aber ein genauer Beobachter aller gottesdienstlichen Gebräuche; grausam
im Strafen, aber als Privatmann höchst abgeneigt, Jemandem Schmerzen zu
macheu; sauft und höflich im geselligen Verkehr, aber rachsüchtiger und nachtra¬
gender als ein Corse; höchst begierig und sähig, seiue Kenntnisse in den Künsten
und Wissenschaften auszudehnen, aber principiell abgesperrt von allen Nationen,
welche ihm allein den so heiß gewünschten Unterricht ertheilen könnten.

Die Regierung ist der Theorie nach absolut, aber in der Wirklichkeit auf's
Aeußerste beschränkt durch eifersüchtig controlirendc Behörden, mächtige Fcudal-
fürsten, und eine jede Selbstthätigkeit unmöglich machendes Ceremoniell. An der
Spitze derselben steht nominell der Mikado, von Europäern auch zuweilen fälsch¬
lich Dairi genannt. Dairi ist der Name seines Hofes, und die Japanesen geben
dem Regenten manchmal den Titel Dairi sana, d. h. Herr des Dairi. Der
Mikado stammt direct von Ziu-ma-den-wu, dem Gründer des Dairis oder des
Palastes der Sonnengöttin, nach der japanesischen Mythe ein Sohn des letzten
irdischen Gottes der Japanesen, nach Klaproth's Vermuthung ein chinesischer
Krieger und Eroberer, der 660 vor Chr. regierte.

Mehrere Jahrhunderte lang waren die Mikados, die Kraft göttlichen und
Kraft Erbrechts regierten, despotische Herrscher; und selbst lauge nachdem sie
aufgehört hatten, sich an die Spitze ihrer Heere zu stellen, und den gefährlichen
Hcerbefehl Söhnen und Verwandten überlassen hatten, blieb ihre Macht noch
unbeschränkt und unbestritten. Die bei den Mikados einreißende Sitte, so früh¬
zeitig abzudanken, daß ihre Söhne die Regierung noch als Kinder übernahmen,
während sie selbst als Vormund ihres Nachfolgers sortregierten, mag den ersten
Anstoß zu allmählicher Schwächung ihrer Macht gegeben haben. Endlich gegen
Mitte des 12. Jahrhunderts nach Christus dankte ein mit der Tochter eines
mächtigen Reichsfürsten vermählter Mikado zu Gunsten seines dreijährigen Sohnes
ab, und der ehrgeizige Großvater des neuen Mikado übernahm die Regentschaft
und kerkerte den abgetretenen Herrscher ein. Daraus entstand ein langer Bürger¬
krieg, in welchem Uoritomo, ein berühmter Held und Heerführer, auf der Seite
des eingekerkerten Exmikados kämpfte, ihn befreite und den Usurpator verjagte.
Der Retter der Dynastie erhielt den Titel 8in> et-ü Sjossun, "Oberfeldherr gegen
die Barbaren"; und war als Stellvertreter des Souverains 20 Jahre lang that¬
sächlich Regent des Reichs. Bei seinem Tode war seine Macht bereits so befestigt,
daß er seinen Titel, seine Wurde und seine Macht auf seinen Sohn vererben konnte.


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rebellisch und widerspenstig wie ein Reichstädter des Mittelalters, wenn diese
Obrigkeit die ihr von tausendjährigem Herkommen gesetzten Schranken über¬
schreitet; er holt sich eine Gattin aus einem Hause, wo in andern Ländern nur
die Verworfensten des weiblichen Geschlechts zu finden sind, aber beurtheilt eine
Verletzung der ehelichen Treue mit der Streuge eines Puritaners und rächt sie
mit der unerbittlichen Härte eines spanischen Hidalgo; er ist nicht religiös im
Herzen, aber ein genauer Beobachter aller gottesdienstlichen Gebräuche; grausam
im Strafen, aber als Privatmann höchst abgeneigt, Jemandem Schmerzen zu
macheu; sauft und höflich im geselligen Verkehr, aber rachsüchtiger und nachtra¬
gender als ein Corse; höchst begierig und sähig, seiue Kenntnisse in den Künsten
und Wissenschaften auszudehnen, aber principiell abgesperrt von allen Nationen,
welche ihm allein den so heiß gewünschten Unterricht ertheilen könnten.

Die Regierung ist der Theorie nach absolut, aber in der Wirklichkeit auf's
Aeußerste beschränkt durch eifersüchtig controlirendc Behörden, mächtige Fcudal-
fürsten, und eine jede Selbstthätigkeit unmöglich machendes Ceremoniell. An der
Spitze derselben steht nominell der Mikado, von Europäern auch zuweilen fälsch¬
lich Dairi genannt. Dairi ist der Name seines Hofes, und die Japanesen geben
dem Regenten manchmal den Titel Dairi sana, d. h. Herr des Dairi. Der
Mikado stammt direct von Ziu-ma-den-wu, dem Gründer des Dairis oder des
Palastes der Sonnengöttin, nach der japanesischen Mythe ein Sohn des letzten
irdischen Gottes der Japanesen, nach Klaproth's Vermuthung ein chinesischer
Krieger und Eroberer, der 660 vor Chr. regierte.

Mehrere Jahrhunderte lang waren die Mikados, die Kraft göttlichen und
Kraft Erbrechts regierten, despotische Herrscher; und selbst lauge nachdem sie
aufgehört hatten, sich an die Spitze ihrer Heere zu stellen, und den gefährlichen
Hcerbefehl Söhnen und Verwandten überlassen hatten, blieb ihre Macht noch
unbeschränkt und unbestritten. Die bei den Mikados einreißende Sitte, so früh¬
zeitig abzudanken, daß ihre Söhne die Regierung noch als Kinder übernahmen,
während sie selbst als Vormund ihres Nachfolgers sortregierten, mag den ersten
Anstoß zu allmählicher Schwächung ihrer Macht gegeben haben. Endlich gegen
Mitte des 12. Jahrhunderts nach Christus dankte ein mit der Tochter eines
mächtigen Reichsfürsten vermählter Mikado zu Gunsten seines dreijährigen Sohnes
ab, und der ehrgeizige Großvater des neuen Mikado übernahm die Regentschaft
und kerkerte den abgetretenen Herrscher ein. Daraus entstand ein langer Bürger¬
krieg, in welchem Uoritomo, ein berühmter Held und Heerführer, auf der Seite
des eingekerkerten Exmikados kämpfte, ihn befreite und den Usurpator verjagte.
Der Retter der Dynastie erhielt den Titel 8in> et-ü Sjossun, „Oberfeldherr gegen
die Barbaren"; und war als Stellvertreter des Souverains 20 Jahre lang that¬
sächlich Regent des Reichs. Bei seinem Tode war seine Macht bereits so befestigt,
daß er seinen Titel, seine Wurde und seine Macht auf seinen Sohn vererben konnte.


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[0451] rebellisch und widerspenstig wie ein Reichstädter des Mittelalters, wenn diese Obrigkeit die ihr von tausendjährigem Herkommen gesetzten Schranken über¬ schreitet; er holt sich eine Gattin aus einem Hause, wo in andern Ländern nur die Verworfensten des weiblichen Geschlechts zu finden sind, aber beurtheilt eine Verletzung der ehelichen Treue mit der Streuge eines Puritaners und rächt sie mit der unerbittlichen Härte eines spanischen Hidalgo; er ist nicht religiös im Herzen, aber ein genauer Beobachter aller gottesdienstlichen Gebräuche; grausam im Strafen, aber als Privatmann höchst abgeneigt, Jemandem Schmerzen zu macheu; sauft und höflich im geselligen Verkehr, aber rachsüchtiger und nachtra¬ gender als ein Corse; höchst begierig und sähig, seiue Kenntnisse in den Künsten und Wissenschaften auszudehnen, aber principiell abgesperrt von allen Nationen, welche ihm allein den so heiß gewünschten Unterricht ertheilen könnten. Die Regierung ist der Theorie nach absolut, aber in der Wirklichkeit auf's Aeußerste beschränkt durch eifersüchtig controlirendc Behörden, mächtige Fcudal- fürsten, und eine jede Selbstthätigkeit unmöglich machendes Ceremoniell. An der Spitze derselben steht nominell der Mikado, von Europäern auch zuweilen fälsch¬ lich Dairi genannt. Dairi ist der Name seines Hofes, und die Japanesen geben dem Regenten manchmal den Titel Dairi sana, d. h. Herr des Dairi. Der Mikado stammt direct von Ziu-ma-den-wu, dem Gründer des Dairis oder des Palastes der Sonnengöttin, nach der japanesischen Mythe ein Sohn des letzten irdischen Gottes der Japanesen, nach Klaproth's Vermuthung ein chinesischer Krieger und Eroberer, der 660 vor Chr. regierte. Mehrere Jahrhunderte lang waren die Mikados, die Kraft göttlichen und Kraft Erbrechts regierten, despotische Herrscher; und selbst lauge nachdem sie aufgehört hatten, sich an die Spitze ihrer Heere zu stellen, und den gefährlichen Hcerbefehl Söhnen und Verwandten überlassen hatten, blieb ihre Macht noch unbeschränkt und unbestritten. Die bei den Mikados einreißende Sitte, so früh¬ zeitig abzudanken, daß ihre Söhne die Regierung noch als Kinder übernahmen, während sie selbst als Vormund ihres Nachfolgers sortregierten, mag den ersten Anstoß zu allmählicher Schwächung ihrer Macht gegeben haben. Endlich gegen Mitte des 12. Jahrhunderts nach Christus dankte ein mit der Tochter eines mächtigen Reichsfürsten vermählter Mikado zu Gunsten seines dreijährigen Sohnes ab, und der ehrgeizige Großvater des neuen Mikado übernahm die Regentschaft und kerkerte den abgetretenen Herrscher ein. Daraus entstand ein langer Bürger¬ krieg, in welchem Uoritomo, ein berühmter Held und Heerführer, auf der Seite des eingekerkerten Exmikados kämpfte, ihn befreite und den Usurpator verjagte. Der Retter der Dynastie erhielt den Titel 8in> et-ü Sjossun, „Oberfeldherr gegen die Barbaren"; und war als Stellvertreter des Souverains 20 Jahre lang that¬ sächlich Regent des Reichs. Bei seinem Tode war seine Macht bereits so befestigt, daß er seinen Titel, seine Wurde und seine Macht auf seinen Sohn vererben konnte. 66*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/451>, abgerufen am 24.07.2024.