Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

beobachten, mit dem die Engländer, nachdem ^sie einmal so weit aus ihrem
Puritaucrthum herausgetreten sind, um dergleichen Probleme überhaupt in's Auge
zu fassen, an die Lösung derselben gehen, namentlich wenn mau sie darin mit den
Franzosen vergleicht. -- Wir haben vor einiger Zeit einen Roman des Ameri¬
kaners Hawthorne, "der Scharlachbuchstabc", besprochen, welcher das nämliche
Problem behandelt. In diesem war der Frage eine mehr phantastische Wendung
gegeben. Mrs. Gaskill dagegen hält sich ganz auf realem Boden; sie vermeidet
selbst einen naheliegenden Idealismus, weil es ihr mehr um die ernste Darstellung
des Gegenstandes zu thun ist, als um deu sonst gewöhnlichen Zweck des Romans,
den romantischen Reiz der Geschichte.

Da uns dieser Roman in die Literatur eingeführt hat, welche jetzt in Eng-
land ziemlich stark um sich greift, in jene kühne, strebsame Philanthropie, die sich
in der Untersuchung ihrer Probleme dnrch die Glaubenssätze der englischen Or¬
thodoxie nicht mehr irren läßt, so führen wir bei dieser Gelegenheit einen andern
Roman an (gleichfalls in der Tauchuitzcr Ausgabe enthalten), der zwar schon etwas
älter ist, den wir aber noch nicht besprochen habe", und der schon um seines Ver¬
fassers willen eine kurze Besprechung verdient. Er heißt: Veast: a pioblvm.
Veast bedeutet auf Deutsch die Hefe, oder eigentlich den GähruugSproceß über¬
haupt, und der Roman bemüht sich, an einzelnen Figuren aus der höheren Ge¬
sellschaft wie aus dem Handwerkerstande jene Zersetzung aller sittlichen Begriffe
anzudeuten, die nach seiner Ansicht zur vollständigen Auflösung aller Verhältnisse,
oder zu einem neuen Glauben führen muß. Wir finden in demselben nur ge¬
brochene Charaktere, problematische Naturen, die so lange alle Ideen und Em¬
pfindungen analysiren, bis sich ihnen zuletzt die Realität selbst in eine Schatten¬
welt verflüchtigt. Die Handlung ist sehr einfach und dürftig; man kann eigentlich
kaum davon reden. Auch den Charakteren fehlt jene feste, reale Basis, ohne
welche auch die besten psychologischen Studien immer nnr zu einer Mosaikarbeit
führen; aber in den Reflexionen ist ein großer Reichthum an Gedanken und ein
eminenter Scharfsinn entwickelt, und es blickt eine Natur durch, die nicht an dem
Zweifel ein leeres Behagen findet, sondern die sich mit großem Ernst bemüht,
über den Zweifel hinauszukommen. Dieser Ernst unterscheidet das Buch vortheil¬
haft von den jungdeutschen Versuchen derselbe" Gattung, und auf der andern
Seite von Thackeray, der bei den trüben Resultaten seiner Philosophie ohne
weitere Anstrengung stehen bleibt. Am Auffallendsten ist uns die Sprache und
die ganze Darstellungsweise, die durchaus von der gewöhnlichen englischen Me¬
thode abweicht und mehr an das Deutsche erinnert. Es ist vorzugsweise der
Einfluß Carlyle's, der sich darin ausspricht. -- Der Verfasser dieses Romans ist
ein Geistlicher, Charles Killgsley. Rector vou Everslcy. Er hat sich früher
vorzugsweise durch zwei Schriften, durch den Roman: Akkon Locke, und durch
das Drama: Uw fällt^ traf^ bekannt gemacht. Der Held des ersten war


beobachten, mit dem die Engländer, nachdem ^sie einmal so weit aus ihrem
Puritaucrthum herausgetreten sind, um dergleichen Probleme überhaupt in's Auge
zu fassen, an die Lösung derselben gehen, namentlich wenn mau sie darin mit den
Franzosen vergleicht. — Wir haben vor einiger Zeit einen Roman des Ameri¬
kaners Hawthorne, „der Scharlachbuchstabc", besprochen, welcher das nämliche
Problem behandelt. In diesem war der Frage eine mehr phantastische Wendung
gegeben. Mrs. Gaskill dagegen hält sich ganz auf realem Boden; sie vermeidet
selbst einen naheliegenden Idealismus, weil es ihr mehr um die ernste Darstellung
des Gegenstandes zu thun ist, als um deu sonst gewöhnlichen Zweck des Romans,
den romantischen Reiz der Geschichte.

Da uns dieser Roman in die Literatur eingeführt hat, welche jetzt in Eng-
land ziemlich stark um sich greift, in jene kühne, strebsame Philanthropie, die sich
in der Untersuchung ihrer Probleme dnrch die Glaubenssätze der englischen Or¬
thodoxie nicht mehr irren läßt, so führen wir bei dieser Gelegenheit einen andern
Roman an (gleichfalls in der Tauchuitzcr Ausgabe enthalten), der zwar schon etwas
älter ist, den wir aber noch nicht besprochen habe», und der schon um seines Ver¬
fassers willen eine kurze Besprechung verdient. Er heißt: Veast: a pioblvm.
Veast bedeutet auf Deutsch die Hefe, oder eigentlich den GähruugSproceß über¬
haupt, und der Roman bemüht sich, an einzelnen Figuren aus der höheren Ge¬
sellschaft wie aus dem Handwerkerstande jene Zersetzung aller sittlichen Begriffe
anzudeuten, die nach seiner Ansicht zur vollständigen Auflösung aller Verhältnisse,
oder zu einem neuen Glauben führen muß. Wir finden in demselben nur ge¬
brochene Charaktere, problematische Naturen, die so lange alle Ideen und Em¬
pfindungen analysiren, bis sich ihnen zuletzt die Realität selbst in eine Schatten¬
welt verflüchtigt. Die Handlung ist sehr einfach und dürftig; man kann eigentlich
kaum davon reden. Auch den Charakteren fehlt jene feste, reale Basis, ohne
welche auch die besten psychologischen Studien immer nnr zu einer Mosaikarbeit
führen; aber in den Reflexionen ist ein großer Reichthum an Gedanken und ein
eminenter Scharfsinn entwickelt, und es blickt eine Natur durch, die nicht an dem
Zweifel ein leeres Behagen findet, sondern die sich mit großem Ernst bemüht,
über den Zweifel hinauszukommen. Dieser Ernst unterscheidet das Buch vortheil¬
haft von den jungdeutschen Versuchen derselbe» Gattung, und auf der andern
Seite von Thackeray, der bei den trüben Resultaten seiner Philosophie ohne
weitere Anstrengung stehen bleibt. Am Auffallendsten ist uns die Sprache und
die ganze Darstellungsweise, die durchaus von der gewöhnlichen englischen Me¬
thode abweicht und mehr an das Deutsche erinnert. Es ist vorzugsweise der
Einfluß Carlyle's, der sich darin ausspricht. — Der Verfasser dieses Romans ist
ein Geistlicher, Charles Killgsley. Rector vou Everslcy. Er hat sich früher
vorzugsweise durch zwei Schriften, durch den Roman: Akkon Locke, und durch
das Drama: Uw fällt^ traf^ bekannt gemacht. Der Held des ersten war


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0374" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186250"/>
          <p xml:id="ID_1148" prev="#ID_1147"> beobachten, mit dem die Engländer, nachdem ^sie einmal so weit aus ihrem<lb/>
Puritaucrthum herausgetreten sind, um dergleichen Probleme überhaupt in's Auge<lb/>
zu fassen, an die Lösung derselben gehen, namentlich wenn mau sie darin mit den<lb/>
Franzosen vergleicht. &#x2014; Wir haben vor einiger Zeit einen Roman des Ameri¬<lb/>
kaners Hawthorne, &#x201E;der Scharlachbuchstabc", besprochen, welcher das nämliche<lb/>
Problem behandelt. In diesem war der Frage eine mehr phantastische Wendung<lb/>
gegeben. Mrs. Gaskill dagegen hält sich ganz auf realem Boden; sie vermeidet<lb/>
selbst einen naheliegenden Idealismus, weil es ihr mehr um die ernste Darstellung<lb/>
des Gegenstandes zu thun ist, als um deu sonst gewöhnlichen Zweck des Romans,<lb/>
den romantischen Reiz der Geschichte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1149" next="#ID_1150"> Da uns dieser Roman in die Literatur eingeführt hat, welche jetzt in Eng-<lb/>
land ziemlich stark um sich greift, in jene kühne, strebsame Philanthropie, die sich<lb/>
in der Untersuchung ihrer Probleme dnrch die Glaubenssätze der englischen Or¬<lb/>
thodoxie nicht mehr irren läßt, so führen wir bei dieser Gelegenheit einen andern<lb/>
Roman an (gleichfalls in der Tauchuitzcr Ausgabe enthalten), der zwar schon etwas<lb/>
älter ist, den wir aber noch nicht besprochen habe», und der schon um seines Ver¬<lb/>
fassers willen eine kurze Besprechung verdient. Er heißt: Veast: a pioblvm.<lb/>
Veast bedeutet auf Deutsch die Hefe, oder eigentlich den GähruugSproceß über¬<lb/>
haupt, und der Roman bemüht sich, an einzelnen Figuren aus der höheren Ge¬<lb/>
sellschaft wie aus dem Handwerkerstande jene Zersetzung aller sittlichen Begriffe<lb/>
anzudeuten, die nach seiner Ansicht zur vollständigen Auflösung aller Verhältnisse,<lb/>
oder zu einem neuen Glauben führen muß. Wir finden in demselben nur ge¬<lb/>
brochene Charaktere, problematische Naturen, die so lange alle Ideen und Em¬<lb/>
pfindungen analysiren, bis sich ihnen zuletzt die Realität selbst in eine Schatten¬<lb/>
welt verflüchtigt. Die Handlung ist sehr einfach und dürftig; man kann eigentlich<lb/>
kaum davon reden. Auch den Charakteren fehlt jene feste, reale Basis, ohne<lb/>
welche auch die besten psychologischen Studien immer nnr zu einer Mosaikarbeit<lb/>
führen; aber in den Reflexionen ist ein großer Reichthum an Gedanken und ein<lb/>
eminenter Scharfsinn entwickelt, und es blickt eine Natur durch, die nicht an dem<lb/>
Zweifel ein leeres Behagen findet, sondern die sich mit großem Ernst bemüht,<lb/>
über den Zweifel hinauszukommen. Dieser Ernst unterscheidet das Buch vortheil¬<lb/>
haft von den jungdeutschen Versuchen derselbe» Gattung, und auf der andern<lb/>
Seite von Thackeray, der bei den trüben Resultaten seiner Philosophie ohne<lb/>
weitere Anstrengung stehen bleibt. Am Auffallendsten ist uns die Sprache und<lb/>
die ganze Darstellungsweise, die durchaus von der gewöhnlichen englischen Me¬<lb/>
thode abweicht und mehr an das Deutsche erinnert. Es ist vorzugsweise der<lb/>
Einfluß Carlyle's, der sich darin ausspricht. &#x2014; Der Verfasser dieses Romans ist<lb/>
ein Geistlicher, Charles Killgsley. Rector vou Everslcy. Er hat sich früher<lb/>
vorzugsweise durch zwei Schriften, durch den Roman: Akkon Locke, und durch<lb/>
das Drama: Uw fällt^ traf^ bekannt gemacht. Der Held des ersten war</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0374] beobachten, mit dem die Engländer, nachdem ^sie einmal so weit aus ihrem Puritaucrthum herausgetreten sind, um dergleichen Probleme überhaupt in's Auge zu fassen, an die Lösung derselben gehen, namentlich wenn mau sie darin mit den Franzosen vergleicht. — Wir haben vor einiger Zeit einen Roman des Ameri¬ kaners Hawthorne, „der Scharlachbuchstabc", besprochen, welcher das nämliche Problem behandelt. In diesem war der Frage eine mehr phantastische Wendung gegeben. Mrs. Gaskill dagegen hält sich ganz auf realem Boden; sie vermeidet selbst einen naheliegenden Idealismus, weil es ihr mehr um die ernste Darstellung des Gegenstandes zu thun ist, als um deu sonst gewöhnlichen Zweck des Romans, den romantischen Reiz der Geschichte. Da uns dieser Roman in die Literatur eingeführt hat, welche jetzt in Eng- land ziemlich stark um sich greift, in jene kühne, strebsame Philanthropie, die sich in der Untersuchung ihrer Probleme dnrch die Glaubenssätze der englischen Or¬ thodoxie nicht mehr irren läßt, so führen wir bei dieser Gelegenheit einen andern Roman an (gleichfalls in der Tauchuitzcr Ausgabe enthalten), der zwar schon etwas älter ist, den wir aber noch nicht besprochen habe», und der schon um seines Ver¬ fassers willen eine kurze Besprechung verdient. Er heißt: Veast: a pioblvm. Veast bedeutet auf Deutsch die Hefe, oder eigentlich den GähruugSproceß über¬ haupt, und der Roman bemüht sich, an einzelnen Figuren aus der höheren Ge¬ sellschaft wie aus dem Handwerkerstande jene Zersetzung aller sittlichen Begriffe anzudeuten, die nach seiner Ansicht zur vollständigen Auflösung aller Verhältnisse, oder zu einem neuen Glauben führen muß. Wir finden in demselben nur ge¬ brochene Charaktere, problematische Naturen, die so lange alle Ideen und Em¬ pfindungen analysiren, bis sich ihnen zuletzt die Realität selbst in eine Schatten¬ welt verflüchtigt. Die Handlung ist sehr einfach und dürftig; man kann eigentlich kaum davon reden. Auch den Charakteren fehlt jene feste, reale Basis, ohne welche auch die besten psychologischen Studien immer nnr zu einer Mosaikarbeit führen; aber in den Reflexionen ist ein großer Reichthum an Gedanken und ein eminenter Scharfsinn entwickelt, und es blickt eine Natur durch, die nicht an dem Zweifel ein leeres Behagen findet, sondern die sich mit großem Ernst bemüht, über den Zweifel hinauszukommen. Dieser Ernst unterscheidet das Buch vortheil¬ haft von den jungdeutschen Versuchen derselbe» Gattung, und auf der andern Seite von Thackeray, der bei den trüben Resultaten seiner Philosophie ohne weitere Anstrengung stehen bleibt. Am Auffallendsten ist uns die Sprache und die ganze Darstellungsweise, die durchaus von der gewöhnlichen englischen Me¬ thode abweicht und mehr an das Deutsche erinnert. Es ist vorzugsweise der Einfluß Carlyle's, der sich darin ausspricht. — Der Verfasser dieses Romans ist ein Geistlicher, Charles Killgsley. Rector vou Everslcy. Er hat sich früher vorzugsweise durch zwei Schriften, durch den Roman: Akkon Locke, und durch das Drama: Uw fällt^ traf^ bekannt gemacht. Der Held des ersten war

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/374
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/374>, abgerufen am 28.12.2024.