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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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ein Schneider, der zu gleicher Zeit dichterische Versuche machte, und sich in die
chartistischen Bewegungen verlocken ließ, um die Leiden des Volks, die er an
sich selbst empfand, zu heilen; der Gegenstand des zweiten die heilige Elisabeth
von Ungarn, die aber nicht in dem alten christlichen Sinn aufgefaßt wird, souderu
als ein Opfer der finstern katholischen Weltanschauung, die um einer Abstraction
willen alle Natur und alle Menschlichkeit mit Füßen tritt. -- Alle diese Schriften
zeigen uns deutlich, daß auch die Festigkeit der englischen Hochkirche dem modernen
Scepticismus keinen entschiedenen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermag, um
so mehr, da Kingsley in seinen Bestrebungen keineswegs allein steht. Gerade
nnter den kleinen Pfarrern finden sich jetzt eine ganze Reihe selbstständiger
Naturen, die den religiösen Trieb, aus welchem früher die zahlreichen Secten
hervorgingen, auf das praktische Leben werfen. Sie unterscheiden sich von den
französischen Aposteln des neuen Evangeliums dadurch, daß sie nicht von allge¬
meinen Abstractionen ausgehen, sondern die wirtlichen Verhältnisse analysiren, und
wie scharf sie mich in ihrer Opposition sind, dennoch sich aus der Realität nie
ganz verlieren. Diese Kritik der socialen Zustande tritt allmählich über die rein
politischen Fragen hinaus, und jede der großen politischen Parteien sucht sie auf
irgeud eine Weise an sich z" ziehe", um damit zu ihren Zwecken zu operiren.
Während der französische Radicalismus sich beständig in apvdictischcn Ideen be¬
wegt und den wirklichen Verhältnissen eine einfache Verneinung entgegensetzt,
stürzt sich der englische unerschrocken in das Chaos der Thatsachen, und ist daher
fruchtbar auch selbst in seinen Verirrungen, denn jede Analyse der Wirklichkeit
fördert die politische Erkenntniß. Der Hanptverbündete Kingölcy'S ist der Pro¬
fessor Frederik Maurice, der mit ihm gemeinschaftlich eine Zeitschrift "Politik
für das Volk", herausgiebt. Diese Zeitschrift hat durchaus uicht einen chartisti¬
schen Anstrich; eher könnte man sie mit den Socialisten in Verbindung bringen,
obgleich sie zu positiv ist, als daß man sie ganz in diese Kategorie werfen könnte.
-- Ein anderer höchst geistvoller Schriftsteller dieser Richtung ist Henry Mayhew,
aus dessen Werk über die Armen und Handwerker von London wir seiner Zeit einzelne
Mittheilungen gemacht haben. Zu derselben Richtung gehören noch zwei Romane,
die im Jahre erschienen: IIu; ^c>rke,r mrcl tlrv ärsamer (der Arbeiter
und der Träumer von dem Pfarrer Horne, viel pathetischer und abstracter
gehalten, als die Schriften von Kingsley, und John Drayton vom Professor
Mitchell, der zwar etwas einförmig und trocken ist, aber im Ganzen eine sehr
verständige Auffassung von den Zuständen der arbeitenden Klassen giebt. -- Von
Kingsley selbst erscheint gegenwärtig in Imxer's Na^wo'ein großer historischer
Roman: II^Mlüii, eine Darstellung des Christenthums in den Zeiten des römischen
Kaiserreichs, der bei vielen vortrefflichen Einzelheiten im Ganzen den historischen
Ton nicht sehr glücklich getroffen hat.

Wir schließen mit einem neuen großen Roman Bulwer's: nvvol, "r,


ein Schneider, der zu gleicher Zeit dichterische Versuche machte, und sich in die
chartistischen Bewegungen verlocken ließ, um die Leiden des Volks, die er an
sich selbst empfand, zu heilen; der Gegenstand des zweiten die heilige Elisabeth
von Ungarn, die aber nicht in dem alten christlichen Sinn aufgefaßt wird, souderu
als ein Opfer der finstern katholischen Weltanschauung, die um einer Abstraction
willen alle Natur und alle Menschlichkeit mit Füßen tritt. — Alle diese Schriften
zeigen uns deutlich, daß auch die Festigkeit der englischen Hochkirche dem modernen
Scepticismus keinen entschiedenen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermag, um
so mehr, da Kingsley in seinen Bestrebungen keineswegs allein steht. Gerade
nnter den kleinen Pfarrern finden sich jetzt eine ganze Reihe selbstständiger
Naturen, die den religiösen Trieb, aus welchem früher die zahlreichen Secten
hervorgingen, auf das praktische Leben werfen. Sie unterscheiden sich von den
französischen Aposteln des neuen Evangeliums dadurch, daß sie nicht von allge¬
meinen Abstractionen ausgehen, sondern die wirtlichen Verhältnisse analysiren, und
wie scharf sie mich in ihrer Opposition sind, dennoch sich aus der Realität nie
ganz verlieren. Diese Kritik der socialen Zustande tritt allmählich über die rein
politischen Fragen hinaus, und jede der großen politischen Parteien sucht sie auf
irgeud eine Weise an sich z» ziehe», um damit zu ihren Zwecken zu operiren.
Während der französische Radicalismus sich beständig in apvdictischcn Ideen be¬
wegt und den wirklichen Verhältnissen eine einfache Verneinung entgegensetzt,
stürzt sich der englische unerschrocken in das Chaos der Thatsachen, und ist daher
fruchtbar auch selbst in seinen Verirrungen, denn jede Analyse der Wirklichkeit
fördert die politische Erkenntniß. Der Hanptverbündete Kingölcy'S ist der Pro¬
fessor Frederik Maurice, der mit ihm gemeinschaftlich eine Zeitschrift „Politik
für das Volk", herausgiebt. Diese Zeitschrift hat durchaus uicht einen chartisti¬
schen Anstrich; eher könnte man sie mit den Socialisten in Verbindung bringen,
obgleich sie zu positiv ist, als daß man sie ganz in diese Kategorie werfen könnte.
— Ein anderer höchst geistvoller Schriftsteller dieser Richtung ist Henry Mayhew,
aus dessen Werk über die Armen und Handwerker von London wir seiner Zeit einzelne
Mittheilungen gemacht haben. Zu derselben Richtung gehören noch zwei Romane,
die im Jahre erschienen: IIu; ^c>rke,r mrcl tlrv ärsamer (der Arbeiter
und der Träumer von dem Pfarrer Horne, viel pathetischer und abstracter
gehalten, als die Schriften von Kingsley, und John Drayton vom Professor
Mitchell, der zwar etwas einförmig und trocken ist, aber im Ganzen eine sehr
verständige Auffassung von den Zuständen der arbeitenden Klassen giebt. — Von
Kingsley selbst erscheint gegenwärtig in Imxer's Na^wo'ein großer historischer
Roman: II^Mlüii, eine Darstellung des Christenthums in den Zeiten des römischen
Kaiserreichs, der bei vielen vortrefflichen Einzelheiten im Ganzen den historischen
Ton nicht sehr glücklich getroffen hat.

Wir schließen mit einem neuen großen Roman Bulwer's: nvvol, »r,


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[0375] ein Schneider, der zu gleicher Zeit dichterische Versuche machte, und sich in die chartistischen Bewegungen verlocken ließ, um die Leiden des Volks, die er an sich selbst empfand, zu heilen; der Gegenstand des zweiten die heilige Elisabeth von Ungarn, die aber nicht in dem alten christlichen Sinn aufgefaßt wird, souderu als ein Opfer der finstern katholischen Weltanschauung, die um einer Abstraction willen alle Natur und alle Menschlichkeit mit Füßen tritt. — Alle diese Schriften zeigen uns deutlich, daß auch die Festigkeit der englischen Hochkirche dem modernen Scepticismus keinen entschiedenen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermag, um so mehr, da Kingsley in seinen Bestrebungen keineswegs allein steht. Gerade nnter den kleinen Pfarrern finden sich jetzt eine ganze Reihe selbstständiger Naturen, die den religiösen Trieb, aus welchem früher die zahlreichen Secten hervorgingen, auf das praktische Leben werfen. Sie unterscheiden sich von den französischen Aposteln des neuen Evangeliums dadurch, daß sie nicht von allge¬ meinen Abstractionen ausgehen, sondern die wirtlichen Verhältnisse analysiren, und wie scharf sie mich in ihrer Opposition sind, dennoch sich aus der Realität nie ganz verlieren. Diese Kritik der socialen Zustande tritt allmählich über die rein politischen Fragen hinaus, und jede der großen politischen Parteien sucht sie auf irgeud eine Weise an sich z» ziehe», um damit zu ihren Zwecken zu operiren. Während der französische Radicalismus sich beständig in apvdictischcn Ideen be¬ wegt und den wirklichen Verhältnissen eine einfache Verneinung entgegensetzt, stürzt sich der englische unerschrocken in das Chaos der Thatsachen, und ist daher fruchtbar auch selbst in seinen Verirrungen, denn jede Analyse der Wirklichkeit fördert die politische Erkenntniß. Der Hanptverbündete Kingölcy'S ist der Pro¬ fessor Frederik Maurice, der mit ihm gemeinschaftlich eine Zeitschrift „Politik für das Volk", herausgiebt. Diese Zeitschrift hat durchaus uicht einen chartisti¬ schen Anstrich; eher könnte man sie mit den Socialisten in Verbindung bringen, obgleich sie zu positiv ist, als daß man sie ganz in diese Kategorie werfen könnte. — Ein anderer höchst geistvoller Schriftsteller dieser Richtung ist Henry Mayhew, aus dessen Werk über die Armen und Handwerker von London wir seiner Zeit einzelne Mittheilungen gemacht haben. Zu derselben Richtung gehören noch zwei Romane, die im Jahre erschienen: IIu; ^c>rke,r mrcl tlrv ärsamer (der Arbeiter und der Träumer von dem Pfarrer Horne, viel pathetischer und abstracter gehalten, als die Schriften von Kingsley, und John Drayton vom Professor Mitchell, der zwar etwas einförmig und trocken ist, aber im Ganzen eine sehr verständige Auffassung von den Zuständen der arbeitenden Klassen giebt. — Von Kingsley selbst erscheint gegenwärtig in Imxer's Na^wo'ein großer historischer Roman: II^Mlüii, eine Darstellung des Christenthums in den Zeiten des römischen Kaiserreichs, der bei vielen vortrefflichen Einzelheiten im Ganzen den historischen Ton nicht sehr glücklich getroffen hat. Wir schließen mit einem neuen großen Roman Bulwer's: nvvol, »r,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/375>, abgerufen am 27.12.2024.