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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Bildung und Gefühl zu thun hat; aber ihre eigentliche schöpferische Kraft kommt
dieser Bildung nicht gleich, sie empfindet zwar mit Geist die richtigen Motive
und Situationen, sie versteht sie aber nicht lebendig und plastisch wiederzugeben;
was sie ihre Personen reden läßt, ist mehr Reflexion der Dichterin über diese
Personen, als Naturausdruck. Sie geht von deu Problemen aus, die sie in
den Charakteren versinnlichen will, nicht von den Charakteren, ans denen sie
Probleme entwickelt. Außerdem kommt durch die vorherrschend katholische Stim¬
mung eine gewisse Mattigkeit in die Erzählung. --

Auch die Verfasserin der nächstfolgenden Novelle (^röte .^von hat sich schon
durch mehrere frühere Romane, namentlich Emilie Wyndham und Navcnseliffe dem
Lesepublicum empfohlen. Sie schreibt anonym, aber ihr wirklicher Name Mstrs.
Marsh ist den englischen Journalen bekannt. Hier befinden wir uns mitten in
der hergebrachten Romantik im alten Styl: ein düstres Schloß, in dem wir
zuerst einem traurigen Todesfall begegnen, eine Criminalgeschichte, ein Verlorner
oder geraubter Sohn, der sich unter sehr verwickelten Umständen wieder
findet, u. s. w. Die Verfasserin erzählt lebhaft, in gutem fließendem Styl, für
das eifrige Lesepublicum auch wol recht, spannend, aber die geistige Ausbeute,
die wir davou tragen, ist gering. Weder in Reflexionen noch in der Darstellung
wird uns etwas wesentlich Neues geboten.

Ein ernsteres Streben zeigt sich indem nächstfolgenden Roman: "Ruth".
Die Verfasserin, Mstrs. Gaskill, hat durch einen früheren Roman: "Mary
Barton", der nicht blos mit Leidenschaft, sondern auch mit einiger Sachkenntniß
die Noth der Fabrikarbeiter besprach, im englischen Publicum einen nicht geringen
Anklang gefunden. Auch bei dem gegenwärtigen Roman erwartet man nach dem
Anfang eine ähnliche Tendenz. Wir werde" in die Werkstätte einer Putzmacherin
eingeführt, und die Noth der armen Mädchen, die in derselben beschäftigt werden,
scheint den Vorwurf des Gemäldes bilden zu wollen, allein im weitern Verlauf
entwickelt sich eine rein individuelle Begebenheit. Ein armes junges Mädchen
wird dnrch einen jungen Mann ans den höheren Ständen, der an sich durchaus
nicht böse ist, der aber solche Verhältnisse ganz mit dem Leichtsinn seiner Klasse
behandelt, verführt; wohlwollende Leute suchen sich ihrer anzunehmen, um sie dem
Verderben zu entreißen, allein sie kann den Makel ihrer Schande nicht wegwischen
und stirbt endlich am gebrochenen Herzen. Es ist in diesem Roman eine große
Natnrwcchrheit. Die Charaktere sind mit sicherer Hand entworfen, und die sitt¬
lichen Zustände uur zu treffend geschildert. Die Verfasserin besitzt ein sehr starkes
sittliches Gefühl, das sich durch keine Sophismen des Verstandes oder des Herzens
irre machen läßt. Allein wir müssen doch gestehen, daß das Buch vom ästhe¬
tischen Gesichtspunkt aus betrachtet, einen nicht sehr angenehmen Eindruck macht.
Es ist eine fortgesetzte Quälerei, die zwar unser Mitleid in Anspruch nimmt, die
uns aber doch zuletzt peinlich wird. Dagegen ist es sehr erfreulich, den Ernst.'zu


Bildung und Gefühl zu thun hat; aber ihre eigentliche schöpferische Kraft kommt
dieser Bildung nicht gleich, sie empfindet zwar mit Geist die richtigen Motive
und Situationen, sie versteht sie aber nicht lebendig und plastisch wiederzugeben;
was sie ihre Personen reden läßt, ist mehr Reflexion der Dichterin über diese
Personen, als Naturausdruck. Sie geht von deu Problemen aus, die sie in
den Charakteren versinnlichen will, nicht von den Charakteren, ans denen sie
Probleme entwickelt. Außerdem kommt durch die vorherrschend katholische Stim¬
mung eine gewisse Mattigkeit in die Erzählung. —

Auch die Verfasserin der nächstfolgenden Novelle (^röte .^von hat sich schon
durch mehrere frühere Romane, namentlich Emilie Wyndham und Navcnseliffe dem
Lesepublicum empfohlen. Sie schreibt anonym, aber ihr wirklicher Name Mstrs.
Marsh ist den englischen Journalen bekannt. Hier befinden wir uns mitten in
der hergebrachten Romantik im alten Styl: ein düstres Schloß, in dem wir
zuerst einem traurigen Todesfall begegnen, eine Criminalgeschichte, ein Verlorner
oder geraubter Sohn, der sich unter sehr verwickelten Umständen wieder
findet, u. s. w. Die Verfasserin erzählt lebhaft, in gutem fließendem Styl, für
das eifrige Lesepublicum auch wol recht, spannend, aber die geistige Ausbeute,
die wir davou tragen, ist gering. Weder in Reflexionen noch in der Darstellung
wird uns etwas wesentlich Neues geboten.

Ein ernsteres Streben zeigt sich indem nächstfolgenden Roman: „Ruth".
Die Verfasserin, Mstrs. Gaskill, hat durch einen früheren Roman: „Mary
Barton", der nicht blos mit Leidenschaft, sondern auch mit einiger Sachkenntniß
die Noth der Fabrikarbeiter besprach, im englischen Publicum einen nicht geringen
Anklang gefunden. Auch bei dem gegenwärtigen Roman erwartet man nach dem
Anfang eine ähnliche Tendenz. Wir werde» in die Werkstätte einer Putzmacherin
eingeführt, und die Noth der armen Mädchen, die in derselben beschäftigt werden,
scheint den Vorwurf des Gemäldes bilden zu wollen, allein im weitern Verlauf
entwickelt sich eine rein individuelle Begebenheit. Ein armes junges Mädchen
wird dnrch einen jungen Mann ans den höheren Ständen, der an sich durchaus
nicht böse ist, der aber solche Verhältnisse ganz mit dem Leichtsinn seiner Klasse
behandelt, verführt; wohlwollende Leute suchen sich ihrer anzunehmen, um sie dem
Verderben zu entreißen, allein sie kann den Makel ihrer Schande nicht wegwischen
und stirbt endlich am gebrochenen Herzen. Es ist in diesem Roman eine große
Natnrwcchrheit. Die Charaktere sind mit sicherer Hand entworfen, und die sitt¬
lichen Zustände uur zu treffend geschildert. Die Verfasserin besitzt ein sehr starkes
sittliches Gefühl, das sich durch keine Sophismen des Verstandes oder des Herzens
irre machen läßt. Allein wir müssen doch gestehen, daß das Buch vom ästhe¬
tischen Gesichtspunkt aus betrachtet, einen nicht sehr angenehmen Eindruck macht.
Es ist eine fortgesetzte Quälerei, die zwar unser Mitleid in Anspruch nimmt, die
uns aber doch zuletzt peinlich wird. Dagegen ist es sehr erfreulich, den Ernst.'zu


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[0373] Bildung und Gefühl zu thun hat; aber ihre eigentliche schöpferische Kraft kommt dieser Bildung nicht gleich, sie empfindet zwar mit Geist die richtigen Motive und Situationen, sie versteht sie aber nicht lebendig und plastisch wiederzugeben; was sie ihre Personen reden läßt, ist mehr Reflexion der Dichterin über diese Personen, als Naturausdruck. Sie geht von deu Problemen aus, die sie in den Charakteren versinnlichen will, nicht von den Charakteren, ans denen sie Probleme entwickelt. Außerdem kommt durch die vorherrschend katholische Stim¬ mung eine gewisse Mattigkeit in die Erzählung. — Auch die Verfasserin der nächstfolgenden Novelle (^röte .^von hat sich schon durch mehrere frühere Romane, namentlich Emilie Wyndham und Navcnseliffe dem Lesepublicum empfohlen. Sie schreibt anonym, aber ihr wirklicher Name Mstrs. Marsh ist den englischen Journalen bekannt. Hier befinden wir uns mitten in der hergebrachten Romantik im alten Styl: ein düstres Schloß, in dem wir zuerst einem traurigen Todesfall begegnen, eine Criminalgeschichte, ein Verlorner oder geraubter Sohn, der sich unter sehr verwickelten Umständen wieder findet, u. s. w. Die Verfasserin erzählt lebhaft, in gutem fließendem Styl, für das eifrige Lesepublicum auch wol recht, spannend, aber die geistige Ausbeute, die wir davou tragen, ist gering. Weder in Reflexionen noch in der Darstellung wird uns etwas wesentlich Neues geboten. Ein ernsteres Streben zeigt sich indem nächstfolgenden Roman: „Ruth". Die Verfasserin, Mstrs. Gaskill, hat durch einen früheren Roman: „Mary Barton", der nicht blos mit Leidenschaft, sondern auch mit einiger Sachkenntniß die Noth der Fabrikarbeiter besprach, im englischen Publicum einen nicht geringen Anklang gefunden. Auch bei dem gegenwärtigen Roman erwartet man nach dem Anfang eine ähnliche Tendenz. Wir werde» in die Werkstätte einer Putzmacherin eingeführt, und die Noth der armen Mädchen, die in derselben beschäftigt werden, scheint den Vorwurf des Gemäldes bilden zu wollen, allein im weitern Verlauf entwickelt sich eine rein individuelle Begebenheit. Ein armes junges Mädchen wird dnrch einen jungen Mann ans den höheren Ständen, der an sich durchaus nicht böse ist, der aber solche Verhältnisse ganz mit dem Leichtsinn seiner Klasse behandelt, verführt; wohlwollende Leute suchen sich ihrer anzunehmen, um sie dem Verderben zu entreißen, allein sie kann den Makel ihrer Schande nicht wegwischen und stirbt endlich am gebrochenen Herzen. Es ist in diesem Roman eine große Natnrwcchrheit. Die Charaktere sind mit sicherer Hand entworfen, und die sitt¬ lichen Zustände uur zu treffend geschildert. Die Verfasserin besitzt ein sehr starkes sittliches Gefühl, das sich durch keine Sophismen des Verstandes oder des Herzens irre machen läßt. Allein wir müssen doch gestehen, daß das Buch vom ästhe¬ tischen Gesichtspunkt aus betrachtet, einen nicht sehr angenehmen Eindruck macht. Es ist eine fortgesetzte Quälerei, die zwar unser Mitleid in Anspruch nimmt, die uns aber doch zuletzt peinlich wird. Dagegen ist es sehr erfreulich, den Ernst.'zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/373>, abgerufen am 28.12.2024.