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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Gouvernement aus dem unangenehmen Dilemma herausgezogen hat, ist für un¬
sren Rechtszustand sehr charakteristisch. Nach der alten Städteordnung, welche
wahre Freiheit schaffen wollte, wurden die Wahlen dnrch das Ballvt vollzogen;
hier war also für gouvernementale Einwirkung, die sich in unsren Tagen zur
üppigsten Blüthe entwickelt hat, bei Weitem nicht der Spielraum vorhanden,
den die Gemeindeordnung mit ihrer öffentlichen Abstimmung gewährte. In Folge
dessen bestanden die alten Stadtverordnetenversammlungen in .Königsberg, Tilsit
u. a. O. fast ausschließlich ans liberalen Elementen, während die Einwirkung,
zu der die in dem neuen Gesetz angeordnete öffentliche Abstimmung herausforderte,
bei den Gemeinderathswahlen ein streng conservativeS, jedem Fortschritt ungünstiges
Ergebniß lieferte, da sich die Liberalen, die nicht vollständig unabhängig von
der Regierung waren, entweder der Wahl enthielten oder sich der vermeintlichen
Nothwendigkeit beugten. Hierin mußte das gegenwärtige Regime, das leider sehr oft
über der Frucht den Boden vergißt, aus welchem sie emporschoß, natürlich einen
großen Borzug der Gemeindeordnung erblicken. Andererseits aber bedurften nach
der Städteordnung sämmtliche Magistratnalen der Bestätigung dnrch die Regierung,
und für die Stelle eines Bürgermeisters hatten die Communen nur ein Präsen¬
tationsrecht, während uach der Gemeindeordnung nnr die Bürgermeisterwahl an
höhere Genehmigung geknüpft war. Bei der großen Selbständigkeit, welche die
Städteordnung den Communen gewährt, konnte jene einschränkende Bestimmung eher
gerechtfertigt werden, und factisch hat damals die Ausübung des Bestätigungsrechts
dnrch die Regierung keinen Anstoß erregt, da die vormärzlichen Regierungen in
anderer Weise, als die jetzige, "über den Parteien standen." Natürlich schaute
das gegenwärtige Gouvernement nach dieser Bestimmung der alte" Städteord-
nung mit besonderer Zärtlichkeit, und war anch nicht in Verlegenheit, sofort aus
dem bureaukratischen Brocken des alten und neuen Gesetzes ein dem eigenen
Geschmack zusagendes Ragout anzurichten. Am !x August, 7 Wochen nach der
Sistirungsordre, wurde die alte liberale Stadtverordnetenversammlung in Königs¬
berg außer Function gesetzt und der bei offener Abstimmung gewählte Gemeinde-
rath eingeführt, nachdem am 2i, Juli ein hierauf bezügliches Ministerialreseript
eingetroffen war, welches die Einführung des Gemcinderaths anordnete und es
nichts desto weniger als selbstverständlich bezeichnete, daß für die eintretenden
Falls zu vollziehenden Wahlen der Magistratnalen nud deren Bestätigung die
Vorschriften der Städteordnung v. 1808 maßgebend blieben, während für
die rechtliche Existenz und formale Geschästsorganisation des Gemeinderaths die
Gen.-Ordn. v. 18so die Grundlage bilde. Ein ähnliches mixtum cour^i-
turn wurde für Liegnitz nud Tilsit beliebt, vielleicht auch "och für andere Städte,
über die keine Nachrichten in die Oeffentlichkeit gedrungen sind. Wer versuche"
wollte zu bestimmen, welche Paragraphen der Gemeindeordnung in diesen Städten
giltig sind und welche nicht, würde sich bald überzeugen, daß diese Untersuchung


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Gouvernement aus dem unangenehmen Dilemma herausgezogen hat, ist für un¬
sren Rechtszustand sehr charakteristisch. Nach der alten Städteordnung, welche
wahre Freiheit schaffen wollte, wurden die Wahlen dnrch das Ballvt vollzogen;
hier war also für gouvernementale Einwirkung, die sich in unsren Tagen zur
üppigsten Blüthe entwickelt hat, bei Weitem nicht der Spielraum vorhanden,
den die Gemeindeordnung mit ihrer öffentlichen Abstimmung gewährte. In Folge
dessen bestanden die alten Stadtverordnetenversammlungen in .Königsberg, Tilsit
u. a. O. fast ausschließlich ans liberalen Elementen, während die Einwirkung,
zu der die in dem neuen Gesetz angeordnete öffentliche Abstimmung herausforderte,
bei den Gemeinderathswahlen ein streng conservativeS, jedem Fortschritt ungünstiges
Ergebniß lieferte, da sich die Liberalen, die nicht vollständig unabhängig von
der Regierung waren, entweder der Wahl enthielten oder sich der vermeintlichen
Nothwendigkeit beugten. Hierin mußte das gegenwärtige Regime, das leider sehr oft
über der Frucht den Boden vergißt, aus welchem sie emporschoß, natürlich einen
großen Borzug der Gemeindeordnung erblicken. Andererseits aber bedurften nach
der Städteordnung sämmtliche Magistratnalen der Bestätigung dnrch die Regierung,
und für die Stelle eines Bürgermeisters hatten die Communen nur ein Präsen¬
tationsrecht, während uach der Gemeindeordnung nnr die Bürgermeisterwahl an
höhere Genehmigung geknüpft war. Bei der großen Selbständigkeit, welche die
Städteordnung den Communen gewährt, konnte jene einschränkende Bestimmung eher
gerechtfertigt werden, und factisch hat damals die Ausübung des Bestätigungsrechts
dnrch die Regierung keinen Anstoß erregt, da die vormärzlichen Regierungen in
anderer Weise, als die jetzige, „über den Parteien standen." Natürlich schaute
das gegenwärtige Gouvernement nach dieser Bestimmung der alte» Städteord-
nung mit besonderer Zärtlichkeit, und war anch nicht in Verlegenheit, sofort aus
dem bureaukratischen Brocken des alten und neuen Gesetzes ein dem eigenen
Geschmack zusagendes Ragout anzurichten. Am !x August, 7 Wochen nach der
Sistirungsordre, wurde die alte liberale Stadtverordnetenversammlung in Königs¬
berg außer Function gesetzt und der bei offener Abstimmung gewählte Gemeinde-
rath eingeführt, nachdem am 2i, Juli ein hierauf bezügliches Ministerialreseript
eingetroffen war, welches die Einführung des Gemcinderaths anordnete und es
nichts desto weniger als selbstverständlich bezeichnete, daß für die eintretenden
Falls zu vollziehenden Wahlen der Magistratnalen nud deren Bestätigung die
Vorschriften der Städteordnung v. 1808 maßgebend blieben, während für
die rechtliche Existenz und formale Geschästsorganisation des Gemeinderaths die
Gen.-Ordn. v. 18so die Grundlage bilde. Ein ähnliches mixtum cour^i-
turn wurde für Liegnitz nud Tilsit beliebt, vielleicht auch »och für andere Städte,
über die keine Nachrichten in die Oeffentlichkeit gedrungen sind. Wer versuche»
wollte zu bestimmen, welche Paragraphen der Gemeindeordnung in diesen Städten
giltig sind und welche nicht, würde sich bald überzeugen, daß diese Untersuchung


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[0225] Gouvernement aus dem unangenehmen Dilemma herausgezogen hat, ist für un¬ sren Rechtszustand sehr charakteristisch. Nach der alten Städteordnung, welche wahre Freiheit schaffen wollte, wurden die Wahlen dnrch das Ballvt vollzogen; hier war also für gouvernementale Einwirkung, die sich in unsren Tagen zur üppigsten Blüthe entwickelt hat, bei Weitem nicht der Spielraum vorhanden, den die Gemeindeordnung mit ihrer öffentlichen Abstimmung gewährte. In Folge dessen bestanden die alten Stadtverordnetenversammlungen in .Königsberg, Tilsit u. a. O. fast ausschließlich ans liberalen Elementen, während die Einwirkung, zu der die in dem neuen Gesetz angeordnete öffentliche Abstimmung herausforderte, bei den Gemeinderathswahlen ein streng conservativeS, jedem Fortschritt ungünstiges Ergebniß lieferte, da sich die Liberalen, die nicht vollständig unabhängig von der Regierung waren, entweder der Wahl enthielten oder sich der vermeintlichen Nothwendigkeit beugten. Hierin mußte das gegenwärtige Regime, das leider sehr oft über der Frucht den Boden vergißt, aus welchem sie emporschoß, natürlich einen großen Borzug der Gemeindeordnung erblicken. Andererseits aber bedurften nach der Städteordnung sämmtliche Magistratnalen der Bestätigung dnrch die Regierung, und für die Stelle eines Bürgermeisters hatten die Communen nur ein Präsen¬ tationsrecht, während uach der Gemeindeordnung nnr die Bürgermeisterwahl an höhere Genehmigung geknüpft war. Bei der großen Selbständigkeit, welche die Städteordnung den Communen gewährt, konnte jene einschränkende Bestimmung eher gerechtfertigt werden, und factisch hat damals die Ausübung des Bestätigungsrechts dnrch die Regierung keinen Anstoß erregt, da die vormärzlichen Regierungen in anderer Weise, als die jetzige, „über den Parteien standen." Natürlich schaute das gegenwärtige Gouvernement nach dieser Bestimmung der alte» Städteord- nung mit besonderer Zärtlichkeit, und war anch nicht in Verlegenheit, sofort aus dem bureaukratischen Brocken des alten und neuen Gesetzes ein dem eigenen Geschmack zusagendes Ragout anzurichten. Am !x August, 7 Wochen nach der Sistirungsordre, wurde die alte liberale Stadtverordnetenversammlung in Königs¬ berg außer Function gesetzt und der bei offener Abstimmung gewählte Gemeinde- rath eingeführt, nachdem am 2i, Juli ein hierauf bezügliches Ministerialreseript eingetroffen war, welches die Einführung des Gemcinderaths anordnete und es nichts desto weniger als selbstverständlich bezeichnete, daß für die eintretenden Falls zu vollziehenden Wahlen der Magistratnalen nud deren Bestätigung die Vorschriften der Städteordnung v. 1808 maßgebend blieben, während für die rechtliche Existenz und formale Geschästsorganisation des Gemeinderaths die Gen.-Ordn. v. 18so die Grundlage bilde. Ein ähnliches mixtum cour^i- turn wurde für Liegnitz nud Tilsit beliebt, vielleicht auch »och für andere Städte, über die keine Nachrichten in die Oeffentlichkeit gedrungen sind. Wer versuche» wollte zu bestimmen, welche Paragraphen der Gemeindeordnung in diesen Städten giltig sind und welche nicht, würde sich bald überzeugen, daß diese Untersuchung «renztwte». >, -!«»,'!, Z8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/225>, abgerufen am 28.12.2024.