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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Die Situation in Piemont; Vincenzo Gioberti.

Dein Ministerwechsel, der vor wenigen Monaten in Piemont statt fand, lag
hauptsächlich die kirchliche Frage zu Grunde. Das Cabinet des Marchese d'Azeglio
nahm Anstand, der heftigen Opposition der sardinischen Bischöfe und der von der
römischen Curie eingenommenen feindseligen Stellung gegenüber, das eingebrachte
und von der Deputirtenkammer bereits votirte Civilehegesetz auch durch die
weiteren legislativen Stadien zu treiben. Eine Zurücknahme erschien jedoch uicht
weniger mißlich, zumal die Agitation gegen den Klerus in der Bevölkerung immer
mehr um sich griff; die Einziehung der Kirchengüter war von der demokratische"
Partei angeregt worden und fand in den von vielen Munieipalvertretuugen
deswegen beschlossenen Petitionen zahlreiche Unterstützung. Massimo d'Azegliv,
dessen reiner Charakter und aufrichtigste Hingebung an die constitutionelle und
nationale Sache keinem Zweifel unterliegt, war in der letztem Zeit, hauptsächlich
durch das Drängen auswärtiger Einflüsse in Schwankungen und Zugeständnisse
an die reactionaire Partei getrieben worden, die das Ansehn seiner Verwaltung
tief erschüttert hatten. Der aristokratische klerikalen Fraction nach wie vor verhaßt,
begegnete er nicht mehr dem frühern Vertrauen bei den Liberalen und sogar den
erbitterten Anfeindungen der äußersten demokratischen Linken. Höchst peinliche
Zerwürfnisse mit dem (damaligen) französischen Gesandten, Herrn His de Buteuval,
rücksichtlich der Presse und der Flüchtlinge beschleunigten seinen Entschluß, vom
Staatsruder zurückzutreten. Eine Krisis erfolgte, die eine verhängnißvolle
Wendung zu nehmen schien, als der König nach fruchtlosen ttntcrhandlnngen mit
dem Grafen Cavour, die Chefs der rechten Seite, die Grafen Nevel und Balbv,
zu sich bescheiden ließ. Ein von diesen gebildetes Cabinet würde eine Preisgebung
der liberalen Politik im Innern und nach Außen bedeutet und in seinen Conse-
quenzen die Existenz der Verfassung gefährdet haben. Der loyale Sinn Victor
Emanuels bewahrte Piemont vor diesem Unglück und Italien vor der Vernichtung
seiner letzten Hoffnungen. Obwol ein eigenhändiges Schreiben des Papstes,


Grenzboten. I. 26
Die Situation in Piemont; Vincenzo Gioberti.

Dein Ministerwechsel, der vor wenigen Monaten in Piemont statt fand, lag
hauptsächlich die kirchliche Frage zu Grunde. Das Cabinet des Marchese d'Azeglio
nahm Anstand, der heftigen Opposition der sardinischen Bischöfe und der von der
römischen Curie eingenommenen feindseligen Stellung gegenüber, das eingebrachte
und von der Deputirtenkammer bereits votirte Civilehegesetz auch durch die
weiteren legislativen Stadien zu treiben. Eine Zurücknahme erschien jedoch uicht
weniger mißlich, zumal die Agitation gegen den Klerus in der Bevölkerung immer
mehr um sich griff; die Einziehung der Kirchengüter war von der demokratische»
Partei angeregt worden und fand in den von vielen Munieipalvertretuugen
deswegen beschlossenen Petitionen zahlreiche Unterstützung. Massimo d'Azegliv,
dessen reiner Charakter und aufrichtigste Hingebung an die constitutionelle und
nationale Sache keinem Zweifel unterliegt, war in der letztem Zeit, hauptsächlich
durch das Drängen auswärtiger Einflüsse in Schwankungen und Zugeständnisse
an die reactionaire Partei getrieben worden, die das Ansehn seiner Verwaltung
tief erschüttert hatten. Der aristokratische klerikalen Fraction nach wie vor verhaßt,
begegnete er nicht mehr dem frühern Vertrauen bei den Liberalen und sogar den
erbitterten Anfeindungen der äußersten demokratischen Linken. Höchst peinliche
Zerwürfnisse mit dem (damaligen) französischen Gesandten, Herrn His de Buteuval,
rücksichtlich der Presse und der Flüchtlinge beschleunigten seinen Entschluß, vom
Staatsruder zurückzutreten. Eine Krisis erfolgte, die eine verhängnißvolle
Wendung zu nehmen schien, als der König nach fruchtlosen ttntcrhandlnngen mit
dem Grafen Cavour, die Chefs der rechten Seite, die Grafen Nevel und Balbv,
zu sich bescheiden ließ. Ein von diesen gebildetes Cabinet würde eine Preisgebung
der liberalen Politik im Innern und nach Außen bedeutet und in seinen Conse-
quenzen die Existenz der Verfassung gefährdet haben. Der loyale Sinn Victor
Emanuels bewahrte Piemont vor diesem Unglück und Italien vor der Vernichtung
seiner letzten Hoffnungen. Obwol ein eigenhändiges Schreiben des Papstes,


Grenzboten. I. 26
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[0209] Die Situation in Piemont; Vincenzo Gioberti. Dein Ministerwechsel, der vor wenigen Monaten in Piemont statt fand, lag hauptsächlich die kirchliche Frage zu Grunde. Das Cabinet des Marchese d'Azeglio nahm Anstand, der heftigen Opposition der sardinischen Bischöfe und der von der römischen Curie eingenommenen feindseligen Stellung gegenüber, das eingebrachte und von der Deputirtenkammer bereits votirte Civilehegesetz auch durch die weiteren legislativen Stadien zu treiben. Eine Zurücknahme erschien jedoch uicht weniger mißlich, zumal die Agitation gegen den Klerus in der Bevölkerung immer mehr um sich griff; die Einziehung der Kirchengüter war von der demokratische» Partei angeregt worden und fand in den von vielen Munieipalvertretuugen deswegen beschlossenen Petitionen zahlreiche Unterstützung. Massimo d'Azegliv, dessen reiner Charakter und aufrichtigste Hingebung an die constitutionelle und nationale Sache keinem Zweifel unterliegt, war in der letztem Zeit, hauptsächlich durch das Drängen auswärtiger Einflüsse in Schwankungen und Zugeständnisse an die reactionaire Partei getrieben worden, die das Ansehn seiner Verwaltung tief erschüttert hatten. Der aristokratische klerikalen Fraction nach wie vor verhaßt, begegnete er nicht mehr dem frühern Vertrauen bei den Liberalen und sogar den erbitterten Anfeindungen der äußersten demokratischen Linken. Höchst peinliche Zerwürfnisse mit dem (damaligen) französischen Gesandten, Herrn His de Buteuval, rücksichtlich der Presse und der Flüchtlinge beschleunigten seinen Entschluß, vom Staatsruder zurückzutreten. Eine Krisis erfolgte, die eine verhängnißvolle Wendung zu nehmen schien, als der König nach fruchtlosen ttntcrhandlnngen mit dem Grafen Cavour, die Chefs der rechten Seite, die Grafen Nevel und Balbv, zu sich bescheiden ließ. Ein von diesen gebildetes Cabinet würde eine Preisgebung der liberalen Politik im Innern und nach Außen bedeutet und in seinen Conse- quenzen die Existenz der Verfassung gefährdet haben. Der loyale Sinn Victor Emanuels bewahrte Piemont vor diesem Unglück und Italien vor der Vernichtung seiner letzten Hoffnungen. Obwol ein eigenhändiges Schreiben des Papstes, Grenzboten. I. 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/209>, abgerufen am 01.07.2024.