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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Zweck nicht gerechtfertigt werden. Engen Sue hat bei seinen Greuclgeschichten
ja mich einen moralischen Zweck vor Angen, wenigstens nach seiner Angabe.
Indeß bei dem dürftigen Talent Engen Sue'S sind wir meistens in der Lage,
dnrch seine Schauergeschichten in eine ganz andere Stimmung versetzt zu werden,
als er beabsichtigt; wir tonnen meistens darüber lachen. Bei der unglaublichen
Virtuosität unsres Dichters dagegen wird unser Gefühl in der That gefangen;
er erreicht seineu Zweck vollkommen; aber das ist um so schlimmer. Er schildert
alle jene Todesarten ans das Ausführlichste und erfüllt uns dadurch mit Ekel und
Entsetzen. So ist z. B. jene Darstellung des Selbstverbrennnngsprocesses das
Abscheulichste, was in unsrer ganzen Literatur vorgekommen ist,,selbst Ainsworth
ist nichts dagegen. Die Kunst hat in unsren Tagen allgemein die sehr bedenkliche
Neigung, im Schmuz, in der Verwesung zu verweilen, aber sie verkennt damit
ganz ihren Zweck, denu statt uns zu erhebe", zieht sie uus dadurch unter das
wirkliche Leben hinunter.

Ein anderer Fehler, in den Dickens diesmal mehr als früher verfallen ist,
ist die Neigung zu unverständlichen Originalen, für die wir keinen Maßstab in
dein gewöhnlichen menschlichen Leben finden. Wir gehen in dein Recht, welches
wir darin dem Humoristen zusprechen, sehr weit. Wenn es dem Dichter gelingt,
uns ein lebensvolles, in sich zusammenhängendes, heiteres und anziehendes Bild
zu schaffen, so fällt es uns gar nicht ein, die WahrscheiulichkeitSrechnuug dagegen
anzuwenden. Führt uus ja auch die plastische Kunst Centauren, Sphinxe und
ähnliche Gestalten vor, deren Unmöglichkeit uns die Naturgeschichte nachweist, die
aber für unsre Phantasie vollkommen lebensfähig und wirklich sind. Aber diese
Bedingung müssen wir anch stellen: jede eigenthümliche Natur, die uns der
Dichter vorführt, muß lebendig in sich selbst und so interessant sein, daß wir sie
als möglich und wirklich wünschen. In den meisten Fällen ist das auch Dickens
gelungen, und wenn er zuweilen über das Maß hinausgeht, so sehen wir es
seineu übrige" Vorzügen nach. Aber diesmal überwiegen die Mißgriffe. Wir
wollen hier als Beispiel einen kleinen Zug anführen. Eine stolze Lady wird von
zwei Kammerjungfern in einem Wagen abgeholt. Sie läßt die eine, die sie
protegirt, mit in dem Wagen zurück fahren, die andere bleibt draußen. Diese
Letztere zieht zu unsrem Erstaunen plötzlich Schuhe und Strümpfe ans und sängt
an, mit langsamen Schritten auf dem durchregneten Wege dnrch Schmuz und
Pfützen dem Wagen uachzuwatcn. Unser erster Eindruck ist, das arme Mädchen
sei dnrch ihr widerfahrene schlechte Behandlung plötzlich verrückt geworden; wir
erfahren aber später, daß sie in jenem Augenblick beschlossen hat, sich in> der
Lady zu rächen, und daß sie, um diesen Entschluß ihrem Gedächtniß fester ein¬
zuprägen, sich bei der Gelegenheit einen starken Schnupfen und Rheumatismus
holen will. Ein so raffinirter, außer den Grenzen aller Wahrscheinlichkeit liegen¬
der Zug könnte nur dann gerechtfertigt werden, wenn wir vorher die lcidenschaft-


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Zweck nicht gerechtfertigt werden. Engen Sue hat bei seinen Greuclgeschichten
ja mich einen moralischen Zweck vor Angen, wenigstens nach seiner Angabe.
Indeß bei dem dürftigen Talent Engen Sue'S sind wir meistens in der Lage,
dnrch seine Schauergeschichten in eine ganz andere Stimmung versetzt zu werden,
als er beabsichtigt; wir tonnen meistens darüber lachen. Bei der unglaublichen
Virtuosität unsres Dichters dagegen wird unser Gefühl in der That gefangen;
er erreicht seineu Zweck vollkommen; aber das ist um so schlimmer. Er schildert
alle jene Todesarten ans das Ausführlichste und erfüllt uns dadurch mit Ekel und
Entsetzen. So ist z. B. jene Darstellung des Selbstverbrennnngsprocesses das
Abscheulichste, was in unsrer ganzen Literatur vorgekommen ist,,selbst Ainsworth
ist nichts dagegen. Die Kunst hat in unsren Tagen allgemein die sehr bedenkliche
Neigung, im Schmuz, in der Verwesung zu verweilen, aber sie verkennt damit
ganz ihren Zweck, denu statt uns zu erhebe», zieht sie uus dadurch unter das
wirkliche Leben hinunter.

Ein anderer Fehler, in den Dickens diesmal mehr als früher verfallen ist,
ist die Neigung zu unverständlichen Originalen, für die wir keinen Maßstab in
dein gewöhnlichen menschlichen Leben finden. Wir gehen in dein Recht, welches
wir darin dem Humoristen zusprechen, sehr weit. Wenn es dem Dichter gelingt,
uns ein lebensvolles, in sich zusammenhängendes, heiteres und anziehendes Bild
zu schaffen, so fällt es uns gar nicht ein, die WahrscheiulichkeitSrechnuug dagegen
anzuwenden. Führt uus ja auch die plastische Kunst Centauren, Sphinxe und
ähnliche Gestalten vor, deren Unmöglichkeit uns die Naturgeschichte nachweist, die
aber für unsre Phantasie vollkommen lebensfähig und wirklich sind. Aber diese
Bedingung müssen wir anch stellen: jede eigenthümliche Natur, die uns der
Dichter vorführt, muß lebendig in sich selbst und so interessant sein, daß wir sie
als möglich und wirklich wünschen. In den meisten Fällen ist das auch Dickens
gelungen, und wenn er zuweilen über das Maß hinausgeht, so sehen wir es
seineu übrige» Vorzügen nach. Aber diesmal überwiegen die Mißgriffe. Wir
wollen hier als Beispiel einen kleinen Zug anführen. Eine stolze Lady wird von
zwei Kammerjungfern in einem Wagen abgeholt. Sie läßt die eine, die sie
protegirt, mit in dem Wagen zurück fahren, die andere bleibt draußen. Diese
Letztere zieht zu unsrem Erstaunen plötzlich Schuhe und Strümpfe ans und sängt
an, mit langsamen Schritten auf dem durchregneten Wege dnrch Schmuz und
Pfützen dem Wagen uachzuwatcn. Unser erster Eindruck ist, das arme Mädchen
sei dnrch ihr widerfahrene schlechte Behandlung plötzlich verrückt geworden; wir
erfahren aber später, daß sie in jenem Augenblick beschlossen hat, sich in> der
Lady zu rächen, und daß sie, um diesen Entschluß ihrem Gedächtniß fester ein¬
zuprägen, sich bei der Gelegenheit einen starken Schnupfen und Rheumatismus
holen will. Ein so raffinirter, außer den Grenzen aller Wahrscheinlichkeit liegen¬
der Zug könnte nur dann gerechtfertigt werden, wenn wir vorher die lcidenschaft-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/131>, abgerufen am 28.12.2024.