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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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lich rachsüchtige Gemüthsstimmung so im Detail angeschaut und dadurch unsre
Stimmung so vorbereitet hätten, daß wir über keine Extravaganz mehr erstaunen.
Aber wir haben von ihr fast gar nichts gehört und werde" daher vollständig
überrascht. Eine solche Ueberraschung erreicht nie den Zweck, den der Dichter sich
gesetzt hat, und ist daher ästhetisch nicht zu rechtfertigen.

Aehnliche Züge finden sich in nicht geringer Zahl vor. Was. aber noch
schlimmer ist, eine ganze Reihe von Figuren sind ans ähnliche extravagante Ein¬
fälle basirt und weiter nichts als die Variationen solcher Einfälle, z. B. ein
gewisser Skimpole, der, bereits ein bejahrter Mann, sich immer noch für ein
Kind ansieht, wie ein Epikuräer lebt und ruhig erwartet, bis Jemand kommt,
ihm seine Schulden zu bezahlen. Wäre diese Figur mit wirklichem Humor
ausgestattet, so würden wir sie gern hinnehmen, wie wir ja z. B. an
Sviveller große Freude haben; aber die nackte Abnormität kann uns nicht
beftiedigen.

In dem ganzen Roman herrschen die häßlichen, widerwärtigen Charaktere
vor, und bei der Darstellung der guten ist er in der Intention geblieben. So
ist z. B. der tugendhafte Jarndyce ohne alle wirklichen charakteristischen Eigen¬
schaften. Er ist zwar von einer unbegrenzten Humanität, streut Wohlthaten
nach allen Seiten aus und hat für jeden Zug des Herzens die feinste Empfäng¬
lichkeit, aber er hat zu wenig Persönlichkeit und hält daher den anderen greller
ausgeführten Personen kein Gegengewicht. Der einzige plastische Zug, der von
ihm angeführt wird, daß er nämlich droht, zum Fenster hinanSznspriugen, wenn
mau sich bei ihm für irgend eine Wohlthat bedankt, und daß er sagt, der Ost¬
wind wehr, wenn sein sittliches Gefühl irgend wie verletzt wird, ist an sich zu
dürftig und kehrt in zu endlosen Wiederholungen wieder, als daß er diesen
Mangel ersetzen könnte. -- Bei einer andern gutartigen Natur hat sich der
Dichter die Aufgabe erschwert. Es ist ein einfaches, bescheidenes Mädchen,
welches durch sein stilles, hingebendes Schaffen und Wirken, durch seiue Gut¬
herzigkeit und seinen klare" Verstand aller Menschen Herz gewinnt und überall
Wohlgefallen verbreitet, wo es einkehrt. Solche Figuren weiß Dickens sehr
schön zu schildern, aber er ist hier in den sonderbaren Mißgriff verfallen, sie ihr
Leben und ihre Wirksamkeit selber beschreiben zu lasse". So ein bescheidenes,
naives Wesen will objectiv angeschaut sein; wenn es uns aber selbst seine Vor¬
züge aus einander setzen soll, seine Bescheidenheit und Naivetät, so glauben wir
nicht mehr daran, denn jene Vorzüge werden nur reizend und anziehend durch
die Bewußtlosigkeit. Es ist um so unbegreiflicher, wie Dickens darauf gekommen
ist, die Hälfte seines Romans mit diesen Tagcbnchblättcrn auszufüllen, da er
dadurch die Einheit seiner Erzählung unnöthiger Weise auf das Unbequemste
unterbricht.

Wir würden als diese Fehler uicht so scharf hervorgehoben haben, wenn


lich rachsüchtige Gemüthsstimmung so im Detail angeschaut und dadurch unsre
Stimmung so vorbereitet hätten, daß wir über keine Extravaganz mehr erstaunen.
Aber wir haben von ihr fast gar nichts gehört und werde» daher vollständig
überrascht. Eine solche Ueberraschung erreicht nie den Zweck, den der Dichter sich
gesetzt hat, und ist daher ästhetisch nicht zu rechtfertigen.

Aehnliche Züge finden sich in nicht geringer Zahl vor. Was. aber noch
schlimmer ist, eine ganze Reihe von Figuren sind ans ähnliche extravagante Ein¬
fälle basirt und weiter nichts als die Variationen solcher Einfälle, z. B. ein
gewisser Skimpole, der, bereits ein bejahrter Mann, sich immer noch für ein
Kind ansieht, wie ein Epikuräer lebt und ruhig erwartet, bis Jemand kommt,
ihm seine Schulden zu bezahlen. Wäre diese Figur mit wirklichem Humor
ausgestattet, so würden wir sie gern hinnehmen, wie wir ja z. B. an
Sviveller große Freude haben; aber die nackte Abnormität kann uns nicht
beftiedigen.

In dem ganzen Roman herrschen die häßlichen, widerwärtigen Charaktere
vor, und bei der Darstellung der guten ist er in der Intention geblieben. So
ist z. B. der tugendhafte Jarndyce ohne alle wirklichen charakteristischen Eigen¬
schaften. Er ist zwar von einer unbegrenzten Humanität, streut Wohlthaten
nach allen Seiten aus und hat für jeden Zug des Herzens die feinste Empfäng¬
lichkeit, aber er hat zu wenig Persönlichkeit und hält daher den anderen greller
ausgeführten Personen kein Gegengewicht. Der einzige plastische Zug, der von
ihm angeführt wird, daß er nämlich droht, zum Fenster hinanSznspriugen, wenn
mau sich bei ihm für irgend eine Wohlthat bedankt, und daß er sagt, der Ost¬
wind wehr, wenn sein sittliches Gefühl irgend wie verletzt wird, ist an sich zu
dürftig und kehrt in zu endlosen Wiederholungen wieder, als daß er diesen
Mangel ersetzen könnte. — Bei einer andern gutartigen Natur hat sich der
Dichter die Aufgabe erschwert. Es ist ein einfaches, bescheidenes Mädchen,
welches durch sein stilles, hingebendes Schaffen und Wirken, durch seiue Gut¬
herzigkeit und seinen klare» Verstand aller Menschen Herz gewinnt und überall
Wohlgefallen verbreitet, wo es einkehrt. Solche Figuren weiß Dickens sehr
schön zu schildern, aber er ist hier in den sonderbaren Mißgriff verfallen, sie ihr
Leben und ihre Wirksamkeit selber beschreiben zu lasse». So ein bescheidenes,
naives Wesen will objectiv angeschaut sein; wenn es uns aber selbst seine Vor¬
züge aus einander setzen soll, seine Bescheidenheit und Naivetät, so glauben wir
nicht mehr daran, denn jene Vorzüge werden nur reizend und anziehend durch
die Bewußtlosigkeit. Es ist um so unbegreiflicher, wie Dickens darauf gekommen
ist, die Hälfte seines Romans mit diesen Tagcbnchblättcrn auszufüllen, da er
dadurch die Einheit seiner Erzählung unnöthiger Weise auf das Unbequemste
unterbricht.

Wir würden als diese Fehler uicht so scharf hervorgehoben haben, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/132>, abgerufen am 04.07.2024.