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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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durch die Betheiligung an diesem Proceß und durch die dadurch erregte" sanguini¬
schen, unbestimmten Hoffnungen aus dem Kreise der praktischen Beschäftigungen,
aus der ernsten, einem bestimmten Zweck nachgehenden Arbeit herausgerissen und
zu träumerischem Müßiggang verleitet werden, und daß sie endlich auf die traurigste
Weise enden. Dickens hat bei allen seinen Darstellungen neben dem ästhetischen
Interesse auch einen praktischen Zweck vor Augen; er will hier die Langsamkeit
des englischen Ncchtsverfahrcns, und was damit zusammenhängt, das Ueberwiegen
des formalen Rechts über das materielle Recht, des Buchstabens über den
Sinn, mit bitterer Satyre geißeln. Das ist unstreitig ein sehr lobenswerther
Zweck, aber er begeht auch hier einen Fehler, zu dem er sich schon in den frü¬
heren Romanen geneigt zeigte: er läßt sich von seiner Heftigkeit hinreißen und faßt
nur die eine Seite des Gegenstandes in's Auge. Daß dieses zähe, unerschütter¬
liche Rechtsgefühl, welches sich einmal von dem formalen Recht und von dem
Buchstabe,! nicht trennen läßt, ein wesentliches Moment für die große nud
freie Entwickelung Englands gewesen ist, fällt ihm nicht ein; er geht in seiner
Leidenschaft so weit, daß er das ganze Rechtssystem der Engländer mit den
schwärzesten Farben malt und daher in unsrer Zeit des Napoleonismus und
der rettenden Thaten zu den bedenklichsten Mißdeutungen Veranlassung giebt.
Etwas Aehnliches hat er schon in deu "Pickwickieru" gethan, wo die Ein¬
richtung der Geschworenen auf eine Weise carikirt wird, die doch über
allen Spaß geht. Daß dem Humoristen darin ein größerer Spielraum ver¬
stattet werde" muß, unterliegt keinen: Zweifel, aber er darf sich doch nicht un¬
bedingt seinen Neigungen und Vorurtheilen hingeben, sonst wird die Freiheit
seiner Stimmmig zur Impietät. Wir wisse" zwar sehr wohl, daß die Engländer
darin Spaß verstehen und daß sie eine novellistische Darstellung nicht für eine
politische Abhandlung nehmen; aber die Neigung zum Radikalismus, d. h. zu
ganz unbestimmten sanguinischen Hoffnungen, die zu den historischen Zuständen
in gar keiner Beziehung stehen, greift auch in England immer mehr um sich, und
el" so geiht- und gemüthvoller Dichter wie Dickens sollte sich nicht dazu hergeben,
ihm Vorschub zu leisten.

Indeß wir könnten von diesem Bedenken absehen, wenn die Ausführung
ästhetisch zu billigen wäre. Das ist aber nicht der Fall. Leider ist die Mysterieu-
literatnr auf Dickens nicht ohne Einfluß geblieben. Der Roman ist erst zur
Hälfte zu Ende, und schou ist eine ganze Reihe von Personen auf die
elendeste Weise umgekommen. Der Eine ist durch täglich wiederholte Opinm-
vergiftuug gestorben, der Andere halb verhungert, der Dritte, ein starker Säufer,
durch Selbstverbrennung umgebracht, ein Vierter liegt den ganzen Roman hin¬
durch in de" letzten Zügen, mehrere Andere treten gleich zu Anfang als
wahnsinnig auf. Alles das sind Opfer jenes gräulichen Processes. Das sind
nach unsrer Ansicht zu viel der Greuel, und sie können durch den sittlichen


durch die Betheiligung an diesem Proceß und durch die dadurch erregte» sanguini¬
schen, unbestimmten Hoffnungen aus dem Kreise der praktischen Beschäftigungen,
aus der ernsten, einem bestimmten Zweck nachgehenden Arbeit herausgerissen und
zu träumerischem Müßiggang verleitet werden, und daß sie endlich auf die traurigste
Weise enden. Dickens hat bei allen seinen Darstellungen neben dem ästhetischen
Interesse auch einen praktischen Zweck vor Augen; er will hier die Langsamkeit
des englischen Ncchtsverfahrcns, und was damit zusammenhängt, das Ueberwiegen
des formalen Rechts über das materielle Recht, des Buchstabens über den
Sinn, mit bitterer Satyre geißeln. Das ist unstreitig ein sehr lobenswerther
Zweck, aber er begeht auch hier einen Fehler, zu dem er sich schon in den frü¬
heren Romanen geneigt zeigte: er läßt sich von seiner Heftigkeit hinreißen und faßt
nur die eine Seite des Gegenstandes in's Auge. Daß dieses zähe, unerschütter¬
liche Rechtsgefühl, welches sich einmal von dem formalen Recht und von dem
Buchstabe,! nicht trennen läßt, ein wesentliches Moment für die große nud
freie Entwickelung Englands gewesen ist, fällt ihm nicht ein; er geht in seiner
Leidenschaft so weit, daß er das ganze Rechtssystem der Engländer mit den
schwärzesten Farben malt und daher in unsrer Zeit des Napoleonismus und
der rettenden Thaten zu den bedenklichsten Mißdeutungen Veranlassung giebt.
Etwas Aehnliches hat er schon in deu „Pickwickieru" gethan, wo die Ein¬
richtung der Geschworenen auf eine Weise carikirt wird, die doch über
allen Spaß geht. Daß dem Humoristen darin ein größerer Spielraum ver¬
stattet werde» muß, unterliegt keinen: Zweifel, aber er darf sich doch nicht un¬
bedingt seinen Neigungen und Vorurtheilen hingeben, sonst wird die Freiheit
seiner Stimmmig zur Impietät. Wir wisse» zwar sehr wohl, daß die Engländer
darin Spaß verstehen und daß sie eine novellistische Darstellung nicht für eine
politische Abhandlung nehmen; aber die Neigung zum Radikalismus, d. h. zu
ganz unbestimmten sanguinischen Hoffnungen, die zu den historischen Zuständen
in gar keiner Beziehung stehen, greift auch in England immer mehr um sich, und
el» so geiht- und gemüthvoller Dichter wie Dickens sollte sich nicht dazu hergeben,
ihm Vorschub zu leisten.

Indeß wir könnten von diesem Bedenken absehen, wenn die Ausführung
ästhetisch zu billigen wäre. Das ist aber nicht der Fall. Leider ist die Mysterieu-
literatnr auf Dickens nicht ohne Einfluß geblieben. Der Roman ist erst zur
Hälfte zu Ende, und schou ist eine ganze Reihe von Personen auf die
elendeste Weise umgekommen. Der Eine ist durch täglich wiederholte Opinm-
vergiftuug gestorben, der Andere halb verhungert, der Dritte, ein starker Säufer,
durch Selbstverbrennung umgebracht, ein Vierter liegt den ganzen Roman hin¬
durch in de» letzten Zügen, mehrere Andere treten gleich zu Anfang als
wahnsinnig auf. Alles das sind Opfer jenes gräulichen Processes. Das sind
nach unsrer Ansicht zu viel der Greuel, und sie können durch den sittlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/130>, abgerufen am 30.06.2024.