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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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ihr Vorurtheil fallen zu lassen, und den weiten mexikanischen Meerbusen als
großes Grab des kleinen Lieblings zu ehren. Am frühen Morgen des folgenden
Tages brachte der erste Steuermann den Leichnam in weißes Segeltuch gehüllt
und mit Ketten beschwert, auf ein kleines Bret befestigt, ans der Tiefe des
Zwischendecks auf das obere Deck; er legte den entseelten Körper auf ein langes
Bret, welches über das Bord hinausgeschoben wurde; das Kommando des Capi¬
tals hieß das Schiff sich drehen, so daß der . Wind an der Fläche der Segel
entlang streifte und das Gebäude bewegungslos machte; alle Bewohner standen
lautlos bei der bisher ungekannten Todtenfeier -- da flatterten die Segel, die
Leiche glitt herab von dem Brete in die Wogen und verschwand nach wenigen
Augenblicken in die Tiefe; noch einige Augenblicke später steuerte das Schiff in
der frühern Richtung; die Matrosen gingen an ihre gewohnten Arbeiten, und
die Passagiere stellten sich in Gruppen zusammen, um über das Geschehene ihre
Meinungen und Gefühle auszutauschen. -- So war zwar durch diesen Todesfall
die Zahl unsrer Reisegesellschaft um 1 verringert, aber die Zahl war schon früher
durch eine Geburt ergänzt, und als wir einige Tage später in die Mündung des
Mississippi einfuhren, war die ursprüngliche Zahl um 1 überschritten.'

Ich hatte mir schon beim Beginn der Reise in den Kopf gesetzt, daß wir
an einem bestimmten Tage, meinem Geburtstage, landen oder wenigstens das
Land in Sicht haben würden; einer oder der andere meiner Freunde fand diese
Voraussetzung sehr fraglich, aber ich hegte eine solche Zuversicht, daß ich, natürlich
nicht um so nud so viel Pfund, sondern um eine Kleinigkeit wettete. Als wir
Cap Se. Antonio passirten, ergab die Wahrscheinlichkeit immer noch, daß ich meine
Wette gewinnen würde, und auch der Capitain sprach mit einem gewissen Grade
von Ueberzeugung aus, dies würde der Tag unsrer Ankunft sein, sobald kein
unvorhergesehenes Hinderniß sich entgegenstellen würde. Der Morgen des viel
besprochenen Tages kam: man gratulirte mir zum Geburtstage, zum Gewinn der
Wette und zu dem Glücke, welches mich nach dem Eintreffen meiner Prophezeiung
nothwendig in Amerika heimsuchen müßte, Alle gratulirten sich aber außerdem
zur glücklichen Ankunft und zur Erfüllung ihrer Wünsche. Dies geschah am
Morgen des Tages, in dessen zweiter Hälfte uns die flachen Ufer des Mississippi
in Sicht kommen sollten. Aber wir hatten unsre Rechnung ohne den Wirth
gemacht. Mittag kam an, und mit ihm rückte das Land auch näher und näher;
aber zwei Stunden-später stellte sich eine vollständige Windstille ein; die Segel
schlugen langsam, dem Wiegen des Schiffes folgend vorwärts und rückwärts, das
Meer begaun sich zu ebenen, und das Schiff schlich dahin, als ob es mit einer
Schnecke einen Wettlauf eingegangen wäre. Wenn überhaupt jede Windstille auf
die Seeleute und aus die Passagiere denselben Eindruck macht, wie das Stillstehen
der Räder aus den Müller, den Eindruck der Leblosigkeit, so kam in unsrem
Falle noch die Verstimmung wegen getäuschter Hoffnung und wegen des Verlustes von


ihr Vorurtheil fallen zu lassen, und den weiten mexikanischen Meerbusen als
großes Grab des kleinen Lieblings zu ehren. Am frühen Morgen des folgenden
Tages brachte der erste Steuermann den Leichnam in weißes Segeltuch gehüllt
und mit Ketten beschwert, auf ein kleines Bret befestigt, ans der Tiefe des
Zwischendecks auf das obere Deck; er legte den entseelten Körper auf ein langes
Bret, welches über das Bord hinausgeschoben wurde; das Kommando des Capi¬
tals hieß das Schiff sich drehen, so daß der . Wind an der Fläche der Segel
entlang streifte und das Gebäude bewegungslos machte; alle Bewohner standen
lautlos bei der bisher ungekannten Todtenfeier — da flatterten die Segel, die
Leiche glitt herab von dem Brete in die Wogen und verschwand nach wenigen
Augenblicken in die Tiefe; noch einige Augenblicke später steuerte das Schiff in
der frühern Richtung; die Matrosen gingen an ihre gewohnten Arbeiten, und
die Passagiere stellten sich in Gruppen zusammen, um über das Geschehene ihre
Meinungen und Gefühle auszutauschen. — So war zwar durch diesen Todesfall
die Zahl unsrer Reisegesellschaft um 1 verringert, aber die Zahl war schon früher
durch eine Geburt ergänzt, und als wir einige Tage später in die Mündung des
Mississippi einfuhren, war die ursprüngliche Zahl um 1 überschritten.'

Ich hatte mir schon beim Beginn der Reise in den Kopf gesetzt, daß wir
an einem bestimmten Tage, meinem Geburtstage, landen oder wenigstens das
Land in Sicht haben würden; einer oder der andere meiner Freunde fand diese
Voraussetzung sehr fraglich, aber ich hegte eine solche Zuversicht, daß ich, natürlich
nicht um so nud so viel Pfund, sondern um eine Kleinigkeit wettete. Als wir
Cap Se. Antonio passirten, ergab die Wahrscheinlichkeit immer noch, daß ich meine
Wette gewinnen würde, und auch der Capitain sprach mit einem gewissen Grade
von Ueberzeugung aus, dies würde der Tag unsrer Ankunft sein, sobald kein
unvorhergesehenes Hinderniß sich entgegenstellen würde. Der Morgen des viel
besprochenen Tages kam: man gratulirte mir zum Geburtstage, zum Gewinn der
Wette und zu dem Glücke, welches mich nach dem Eintreffen meiner Prophezeiung
nothwendig in Amerika heimsuchen müßte, Alle gratulirten sich aber außerdem
zur glücklichen Ankunft und zur Erfüllung ihrer Wünsche. Dies geschah am
Morgen des Tages, in dessen zweiter Hälfte uns die flachen Ufer des Mississippi
in Sicht kommen sollten. Aber wir hatten unsre Rechnung ohne den Wirth
gemacht. Mittag kam an, und mit ihm rückte das Land auch näher und näher;
aber zwei Stunden-später stellte sich eine vollständige Windstille ein; die Segel
schlugen langsam, dem Wiegen des Schiffes folgend vorwärts und rückwärts, das
Meer begaun sich zu ebenen, und das Schiff schlich dahin, als ob es mit einer
Schnecke einen Wettlauf eingegangen wäre. Wenn überhaupt jede Windstille auf
die Seeleute und aus die Passagiere denselben Eindruck macht, wie das Stillstehen
der Räder aus den Müller, den Eindruck der Leblosigkeit, so kam in unsrem
Falle noch die Verstimmung wegen getäuschter Hoffnung und wegen des Verlustes von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/65>, abgerufen am 20.10.2024.