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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Fälle. Wir wollen im Obigen blos gesagt haben, daß der leitende, mit eiserner
Consequenz festgehaltene, Gedanke der Timespolitik die Förderung des englischen
Interesses ist, daß sie dieser Konsequenz zu Liebe die größten äußerlichen
Inconsequenzen nicht scheut, daß darin ihre ganze Mthselhaftigkeit verborgen
liegt.

"Die Times" ist eben so wenig je Regierungs- wie Oppositionsblatt ge¬
wesen. Sie bewahrte sich stets ihre Unabhängigkeit, ging in einzelnen Fragen
mit dem herrschenden Ministerium, stand zu gleicher Zeit in anderen Punkten
demselben als Gegner schroff gegenüber, machte nie Opposition der Lust zur
Opposition wegen, und blieb nnr dann unter allen Verhältnissen unbeugsam,
wenn es sich um eine nationale Lebensfrage, z. B. um Freihandel und Schutzzoll
handelte. Man kann wohl sagen, daß sie an keinem einzigen Principe blos der
Vortrefflichkeit von dessen Theorie wegen festhalte, dagegen ist die erwiesene
praktische Nützlichkeit der Glaube, für den sie kämpft, dem sie nie untreu wird.--
Aus allem dem erklärt sich's, warum sie in England eine muntere Verfechterin
jedes allmählichen, gediegenen, zopsabschneidenden, die materielle Entwickelung
fördernden Forschrittes ist, dagegen in ihrer auswärtigen Politik alte erprobte
Allianzen und durch die Zeit geheiligte Negierungsspsteme mit sichtbarer Vorliebe
an ihr Herz schließt; warum dieselbe "Times", die in ganz England mit Recht
für ein gemäßigt liberales Blatt gilt, in liberaleren Kreisen auf dem Continent
als gemäßigt reactionaires Organ verschrieen wird. Daraus erklärt sich's serner,
daß ihr protectionistische Blätter seit Jahren den Vorwurf machen konnten, sie
habe sich mit Haut und Haaren dem Satan Demokratie und Manchester überliefert,
während es bei vielen Radicalen aller Länder feststeht, sie stehe im Solde Rußlands
und aller bösen Geister. Die "Times" ist aber eben so wenig demokratisch, wie
russisch, steht eben so wenig im Solde von Arnold Rüge, wie vou Rothschild; sie
wird unter allen Verhältnissen, aus leicht faßlichen politischen Gründen, immer
mehr russisch als östreichisch, jederzeit mehr östreichisch als französisch und ewig
vor Allem englisch, egoistisch, das heißt politisch sein. Wer von der "Times"
oder von irgend einem mit Verstand redigirten politischen Blatte verlangt, daß
sich deren Redactionen auf einen allgemeinen rein menschlichen Standpunkt stellen
sollen, daß sie ihre. Urtheile über die Politik des Tages aus dem ewige" Buche
der Kulturgeschichte und der Moralphilosophie schöpfen sollen, mit Einem Worte,
daß sie Moral und nicht Politik machen sollen, der verkennt die Stellung eines
politischen Blattes, der könnte mit demselben Rechte einem Diplomaten das
strengste Abweichen von der Wahrheit zum Verbrechen machen, der müßte von
einem politischen Blatte vor Allem fordern, daß es sich von den Interessen der
Einzelnstaaten loslöse und, um desto nnbeirrter mvraphilvsophisch sein zu können,
sein Bureau nach einer der einsamsten Inseln des stillen Oceans verlege.

Doch wo sind wir hingerathen?! Der Leser möge diese Abschweifung ver-


Fälle. Wir wollen im Obigen blos gesagt haben, daß der leitende, mit eiserner
Consequenz festgehaltene, Gedanke der Timespolitik die Förderung des englischen
Interesses ist, daß sie dieser Konsequenz zu Liebe die größten äußerlichen
Inconsequenzen nicht scheut, daß darin ihre ganze Mthselhaftigkeit verborgen
liegt.

„Die Times" ist eben so wenig je Regierungs- wie Oppositionsblatt ge¬
wesen. Sie bewahrte sich stets ihre Unabhängigkeit, ging in einzelnen Fragen
mit dem herrschenden Ministerium, stand zu gleicher Zeit in anderen Punkten
demselben als Gegner schroff gegenüber, machte nie Opposition der Lust zur
Opposition wegen, und blieb nnr dann unter allen Verhältnissen unbeugsam,
wenn es sich um eine nationale Lebensfrage, z. B. um Freihandel und Schutzzoll
handelte. Man kann wohl sagen, daß sie an keinem einzigen Principe blos der
Vortrefflichkeit von dessen Theorie wegen festhalte, dagegen ist die erwiesene
praktische Nützlichkeit der Glaube, für den sie kämpft, dem sie nie untreu wird.—
Aus allem dem erklärt sich's, warum sie in England eine muntere Verfechterin
jedes allmählichen, gediegenen, zopsabschneidenden, die materielle Entwickelung
fördernden Forschrittes ist, dagegen in ihrer auswärtigen Politik alte erprobte
Allianzen und durch die Zeit geheiligte Negierungsspsteme mit sichtbarer Vorliebe
an ihr Herz schließt; warum dieselbe „Times", die in ganz England mit Recht
für ein gemäßigt liberales Blatt gilt, in liberaleren Kreisen auf dem Continent
als gemäßigt reactionaires Organ verschrieen wird. Daraus erklärt sich's serner,
daß ihr protectionistische Blätter seit Jahren den Vorwurf machen konnten, sie
habe sich mit Haut und Haaren dem Satan Demokratie und Manchester überliefert,
während es bei vielen Radicalen aller Länder feststeht, sie stehe im Solde Rußlands
und aller bösen Geister. Die „Times" ist aber eben so wenig demokratisch, wie
russisch, steht eben so wenig im Solde von Arnold Rüge, wie vou Rothschild; sie
wird unter allen Verhältnissen, aus leicht faßlichen politischen Gründen, immer
mehr russisch als östreichisch, jederzeit mehr östreichisch als französisch und ewig
vor Allem englisch, egoistisch, das heißt politisch sein. Wer von der „Times"
oder von irgend einem mit Verstand redigirten politischen Blatte verlangt, daß
sich deren Redactionen auf einen allgemeinen rein menschlichen Standpunkt stellen
sollen, daß sie ihre. Urtheile über die Politik des Tages aus dem ewige» Buche
der Kulturgeschichte und der Moralphilosophie schöpfen sollen, mit Einem Worte,
daß sie Moral und nicht Politik machen sollen, der verkennt die Stellung eines
politischen Blattes, der könnte mit demselben Rechte einem Diplomaten das
strengste Abweichen von der Wahrheit zum Verbrechen machen, der müßte von
einem politischen Blatte vor Allem fordern, daß es sich von den Interessen der
Einzelnstaaten loslöse und, um desto nnbeirrter mvraphilvsophisch sein zu können,
sein Bureau nach einer der einsamsten Inseln des stillen Oceans verlege.

Doch wo sind wir hingerathen?! Der Leser möge diese Abschweifung ver-


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[0415] Fälle. Wir wollen im Obigen blos gesagt haben, daß der leitende, mit eiserner Consequenz festgehaltene, Gedanke der Timespolitik die Förderung des englischen Interesses ist, daß sie dieser Konsequenz zu Liebe die größten äußerlichen Inconsequenzen nicht scheut, daß darin ihre ganze Mthselhaftigkeit verborgen liegt. „Die Times" ist eben so wenig je Regierungs- wie Oppositionsblatt ge¬ wesen. Sie bewahrte sich stets ihre Unabhängigkeit, ging in einzelnen Fragen mit dem herrschenden Ministerium, stand zu gleicher Zeit in anderen Punkten demselben als Gegner schroff gegenüber, machte nie Opposition der Lust zur Opposition wegen, und blieb nnr dann unter allen Verhältnissen unbeugsam, wenn es sich um eine nationale Lebensfrage, z. B. um Freihandel und Schutzzoll handelte. Man kann wohl sagen, daß sie an keinem einzigen Principe blos der Vortrefflichkeit von dessen Theorie wegen festhalte, dagegen ist die erwiesene praktische Nützlichkeit der Glaube, für den sie kämpft, dem sie nie untreu wird.— Aus allem dem erklärt sich's, warum sie in England eine muntere Verfechterin jedes allmählichen, gediegenen, zopsabschneidenden, die materielle Entwickelung fördernden Forschrittes ist, dagegen in ihrer auswärtigen Politik alte erprobte Allianzen und durch die Zeit geheiligte Negierungsspsteme mit sichtbarer Vorliebe an ihr Herz schließt; warum dieselbe „Times", die in ganz England mit Recht für ein gemäßigt liberales Blatt gilt, in liberaleren Kreisen auf dem Continent als gemäßigt reactionaires Organ verschrieen wird. Daraus erklärt sich's serner, daß ihr protectionistische Blätter seit Jahren den Vorwurf machen konnten, sie habe sich mit Haut und Haaren dem Satan Demokratie und Manchester überliefert, während es bei vielen Radicalen aller Länder feststeht, sie stehe im Solde Rußlands und aller bösen Geister. Die „Times" ist aber eben so wenig demokratisch, wie russisch, steht eben so wenig im Solde von Arnold Rüge, wie vou Rothschild; sie wird unter allen Verhältnissen, aus leicht faßlichen politischen Gründen, immer mehr russisch als östreichisch, jederzeit mehr östreichisch als französisch und ewig vor Allem englisch, egoistisch, das heißt politisch sein. Wer von der „Times" oder von irgend einem mit Verstand redigirten politischen Blatte verlangt, daß sich deren Redactionen auf einen allgemeinen rein menschlichen Standpunkt stellen sollen, daß sie ihre. Urtheile über die Politik des Tages aus dem ewige» Buche der Kulturgeschichte und der Moralphilosophie schöpfen sollen, mit Einem Worte, daß sie Moral und nicht Politik machen sollen, der verkennt die Stellung eines politischen Blattes, der könnte mit demselben Rechte einem Diplomaten das strengste Abweichen von der Wahrheit zum Verbrechen machen, der müßte von einem politischen Blatte vor Allem fordern, daß es sich von den Interessen der Einzelnstaaten loslöse und, um desto nnbeirrter mvraphilvsophisch sein zu können, sein Bureau nach einer der einsamsten Inseln des stillen Oceans verlege. Doch wo sind wir hingerathen?! Der Leser möge diese Abschweifung ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/415>, abgerufen am 20.10.2024.