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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Stoß von Zeitungen und Papieren, neben ihm sitzt der Redacteur co Mr.'
Womit beschäftigen sich die beiden Herren? Sie lesen die bedeutendsten Journale
des Tages, notiren das Bemerkenswerthe, und halten Konferenz über die zu
treffende Auswahl derjenigen Gegenstände, die im morgigen Blatte in Form von
Leitartikeln besprochen werden sollen. Aber nicht genng an dein. Ist der Stoff
der Leitartikel gewählt, so wird meist über das Detail derselben berathen; es
werden die einzelnen Momente, die besprochen werden sollen -- wenn es einem
allgemeinen Stoss gilt -- flüchtig zu Papier gebracht, und nach Umständen die
Richtung vorgezeichnet. In vielen Fällen ist dies freilich nicht nöthig, in anderen
desto mehr. Man kennt die zuweilen so merkwürdigen und raschen Uebergänge
der Times in Deutschland zur Genüge. Vielen, auch den meisten Engländern,
ist die Politik der "Times" durch ihre Sprünge ein unerforschliches Räthsel,
während sich dieses ganze große Räthsel einfach dadurch erklärt, daß sie jeder
Zeit ein specifisch englisches Blatt ist, jeder Zeit der Majorität des Landes
entweder folgt, oder ihr nur dann widerspricht, wenn sie scharfsinniger als die
meisten ihrer Kollegen eine baldige Aenderung der öffentlichen Meinung voraus¬
sieht, daß sie unausgesetzt das specielle britische Interesse im Auge hat, mit
eiserner Konsequenz und mit merkwürdiger Nüchternheit im Geiste dieses britischen
Interesses schreibt, und alles Andere diesem Interesse schonungslos opfert. Darin
liegt das ganze Räthsel ihrer anscheinend wandelbaren Politik. Sie greift rasch
und unbeirrt nach dem, was ihr für England demnächst als ersprießlich gilt, mag
dabei die außereuglische Welt in Trümmer gehen. Sie ist menschlich, con-
stitutionell, liberal, sogar sentimental für's Ausland, wenn dabei England gedient
wird; sie ist aber auch im Staude, den Eisfeldern Sibiriens einen ewigen
Frühling anzudichten, wenn eine Allianz mit Rußland dem Interesse Englands
entspricht; sie konnte sich entschließen, den Sclavenhandel zu vertheidigen, wenn
sie überzeugt wäre, daß mit dessen Aufhören die Jaquards von Lancashire zur
ewigen Ruhe verdammt würden. -- Man hat der "Times" ihre Sprünge viel¬
fach zum Vorwurf gemacht -- in und außer England --; aber es liegt in ihr
trotzdem eine starre politische Consequenz, die zuweilen dämonisch ist, jedenfalls
aber der mächtigste Hebel war, der "Times" ihre jetzige einflußreiche Stellung
zu verschaffen. -- Man wird hier den Einwurf machen, die "Times" habe gar
oft Saiten angeschlagen, die mit dem englischen Interesse sehr schlecht harmvnir-
ten. Ja wohl, und es ließen sich dergleichen Fälle ohne viel Schwierigkeit nach¬
weisen. Aber es wurde im Obigen auch durchaus nicht behauptet, daß sie unfehlbar
sei. Die Times, d. h. ihre Redaction hat sich bei all ihrer Vor- und Umsicht
oft genug in ihren Ansichten betrogen. Die besten Redacteure sind aber nicht
allwissend, und Mr. Morris zumal hat westindisches Blut in seinen Adern, hat
seine menschlichen Sympathien und Antipathien, die einem klaren, unparteiischen
Urtheil zuweilen sehr ungesund sind. Es handelt sich hier auch nicht um einzelne


Stoß von Zeitungen und Papieren, neben ihm sitzt der Redacteur co Mr.'
Womit beschäftigen sich die beiden Herren? Sie lesen die bedeutendsten Journale
des Tages, notiren das Bemerkenswerthe, und halten Konferenz über die zu
treffende Auswahl derjenigen Gegenstände, die im morgigen Blatte in Form von
Leitartikeln besprochen werden sollen. Aber nicht genng an dein. Ist der Stoff
der Leitartikel gewählt, so wird meist über das Detail derselben berathen; es
werden die einzelnen Momente, die besprochen werden sollen — wenn es einem
allgemeinen Stoss gilt — flüchtig zu Papier gebracht, und nach Umständen die
Richtung vorgezeichnet. In vielen Fällen ist dies freilich nicht nöthig, in anderen
desto mehr. Man kennt die zuweilen so merkwürdigen und raschen Uebergänge
der Times in Deutschland zur Genüge. Vielen, auch den meisten Engländern,
ist die Politik der „Times" durch ihre Sprünge ein unerforschliches Räthsel,
während sich dieses ganze große Räthsel einfach dadurch erklärt, daß sie jeder
Zeit ein specifisch englisches Blatt ist, jeder Zeit der Majorität des Landes
entweder folgt, oder ihr nur dann widerspricht, wenn sie scharfsinniger als die
meisten ihrer Kollegen eine baldige Aenderung der öffentlichen Meinung voraus¬
sieht, daß sie unausgesetzt das specielle britische Interesse im Auge hat, mit
eiserner Konsequenz und mit merkwürdiger Nüchternheit im Geiste dieses britischen
Interesses schreibt, und alles Andere diesem Interesse schonungslos opfert. Darin
liegt das ganze Räthsel ihrer anscheinend wandelbaren Politik. Sie greift rasch
und unbeirrt nach dem, was ihr für England demnächst als ersprießlich gilt, mag
dabei die außereuglische Welt in Trümmer gehen. Sie ist menschlich, con-
stitutionell, liberal, sogar sentimental für's Ausland, wenn dabei England gedient
wird; sie ist aber auch im Staude, den Eisfeldern Sibiriens einen ewigen
Frühling anzudichten, wenn eine Allianz mit Rußland dem Interesse Englands
entspricht; sie konnte sich entschließen, den Sclavenhandel zu vertheidigen, wenn
sie überzeugt wäre, daß mit dessen Aufhören die Jaquards von Lancashire zur
ewigen Ruhe verdammt würden. — Man hat der „Times" ihre Sprünge viel¬
fach zum Vorwurf gemacht — in und außer England —; aber es liegt in ihr
trotzdem eine starre politische Consequenz, die zuweilen dämonisch ist, jedenfalls
aber der mächtigste Hebel war, der „Times" ihre jetzige einflußreiche Stellung
zu verschaffen. — Man wird hier den Einwurf machen, die „Times" habe gar
oft Saiten angeschlagen, die mit dem englischen Interesse sehr schlecht harmvnir-
ten. Ja wohl, und es ließen sich dergleichen Fälle ohne viel Schwierigkeit nach¬
weisen. Aber es wurde im Obigen auch durchaus nicht behauptet, daß sie unfehlbar
sei. Die Times, d. h. ihre Redaction hat sich bei all ihrer Vor- und Umsicht
oft genug in ihren Ansichten betrogen. Die besten Redacteure sind aber nicht
allwissend, und Mr. Morris zumal hat westindisches Blut in seinen Adern, hat
seine menschlichen Sympathien und Antipathien, die einem klaren, unparteiischen
Urtheil zuweilen sehr ungesund sind. Es handelt sich hier auch nicht um einzelne


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[0414] Stoß von Zeitungen und Papieren, neben ihm sitzt der Redacteur co Mr.' Womit beschäftigen sich die beiden Herren? Sie lesen die bedeutendsten Journale des Tages, notiren das Bemerkenswerthe, und halten Konferenz über die zu treffende Auswahl derjenigen Gegenstände, die im morgigen Blatte in Form von Leitartikeln besprochen werden sollen. Aber nicht genng an dein. Ist der Stoff der Leitartikel gewählt, so wird meist über das Detail derselben berathen; es werden die einzelnen Momente, die besprochen werden sollen — wenn es einem allgemeinen Stoss gilt — flüchtig zu Papier gebracht, und nach Umständen die Richtung vorgezeichnet. In vielen Fällen ist dies freilich nicht nöthig, in anderen desto mehr. Man kennt die zuweilen so merkwürdigen und raschen Uebergänge der Times in Deutschland zur Genüge. Vielen, auch den meisten Engländern, ist die Politik der „Times" durch ihre Sprünge ein unerforschliches Räthsel, während sich dieses ganze große Räthsel einfach dadurch erklärt, daß sie jeder Zeit ein specifisch englisches Blatt ist, jeder Zeit der Majorität des Landes entweder folgt, oder ihr nur dann widerspricht, wenn sie scharfsinniger als die meisten ihrer Kollegen eine baldige Aenderung der öffentlichen Meinung voraus¬ sieht, daß sie unausgesetzt das specielle britische Interesse im Auge hat, mit eiserner Konsequenz und mit merkwürdiger Nüchternheit im Geiste dieses britischen Interesses schreibt, und alles Andere diesem Interesse schonungslos opfert. Darin liegt das ganze Räthsel ihrer anscheinend wandelbaren Politik. Sie greift rasch und unbeirrt nach dem, was ihr für England demnächst als ersprießlich gilt, mag dabei die außereuglische Welt in Trümmer gehen. Sie ist menschlich, con- stitutionell, liberal, sogar sentimental für's Ausland, wenn dabei England gedient wird; sie ist aber auch im Staude, den Eisfeldern Sibiriens einen ewigen Frühling anzudichten, wenn eine Allianz mit Rußland dem Interesse Englands entspricht; sie konnte sich entschließen, den Sclavenhandel zu vertheidigen, wenn sie überzeugt wäre, daß mit dessen Aufhören die Jaquards von Lancashire zur ewigen Ruhe verdammt würden. — Man hat der „Times" ihre Sprünge viel¬ fach zum Vorwurf gemacht — in und außer England —; aber es liegt in ihr trotzdem eine starre politische Consequenz, die zuweilen dämonisch ist, jedenfalls aber der mächtigste Hebel war, der „Times" ihre jetzige einflußreiche Stellung zu verschaffen. — Man wird hier den Einwurf machen, die „Times" habe gar oft Saiten angeschlagen, die mit dem englischen Interesse sehr schlecht harmvnir- ten. Ja wohl, und es ließen sich dergleichen Fälle ohne viel Schwierigkeit nach¬ weisen. Aber es wurde im Obigen auch durchaus nicht behauptet, daß sie unfehlbar sei. Die Times, d. h. ihre Redaction hat sich bei all ihrer Vor- und Umsicht oft genug in ihren Ansichten betrogen. Die besten Redacteure sind aber nicht allwissend, und Mr. Morris zumal hat westindisches Blut in seinen Adern, hat seine menschlichen Sympathien und Antipathien, die einem klaren, unparteiischen Urtheil zuweilen sehr ungesund sind. Es handelt sich hier auch nicht um einzelne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/414>, abgerufen am 27.09.2024.