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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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in der Reinheit und Eleganz der Form. In dieser ist ihm nur Goethe zu vergleichen,
denn auch bei Heine finden sich in den schönstew Liedern fast überall einzelne
Stellen, die gegen dje Stimmung verstoßen. Uhland's Manier ist seit der Zeit
so allgemein üblich geworden, und sie ist anch im Aeußerlichen so leicht nachzuahmen,
daß mau den Unterschied gewöhnlich übersieht. Mau nehme aber ein beliebiges
Gedicht, am besten ein solches, worin er einen gegebenen Stoff behandelt, z. B.
den Grafen Eberstein, und lese es mit vorzüglicher Aufmerksamkeit auf den
Styl, so wird mau Feinheiten entdecken, die gewöhnlich unbeachtet bleiben.
Die Melodie dieses Styls .dehnt sich auf die Reihenfolge der Bilder und
Empfindungen aus, die der Musik auf das Günstigste entgegenarbeiten. Wir
haben aber bereits bemerkt, daß in dieser Form des Liedes zugleich der Keim
eiuer üble" Verirrung enthalten war. Bei dem alten schwäbischen Volks¬
lied, dem Vorbilde des Dichters, ist wenigstens für uns die Melodie mit dem
Inhalt so unzertrennlich verbunden, daß wir das Eine ohne das Andere gar nicht
denken können. So z. B. in dem bekannten: "Jetzt gang i ans Brünnele u. s. w."
Die Melodie ist einfach und klingt leicht ins Ohr, die Worte des Textes
schmiegen sich ihr lose und mit einer gewissen anmuthigen Freiheit an. So blieb
auch im Wesentlichen die Komposition in der Neichhardt'schen Zeit, obgleich das
Verhältniß hier bereits ein künstliches war,, weil zwei verschiedene bestimmte Indivi¬
dualitäten neben einander treten mußten. Nun kam es aber bald, daß die Zahl
der Compositionen über die Zahl der brauchbaren Lieder hinausging. Fast jeder
neue Componist bemühte sich, die nämlichen Lieder, die ihm in einer frühern
Composttivu gefallen hatten, auf seine Weise in Musik zu setzen, und es war
natürlich, daß er sich lieber den seltsamsten Einfällen überließ, als daß er sich
dem Verdacht der bloßen Nachahmung ausgesetzt hätte. Die Texte selbst bequemten
sich bei ihrem geringen Inhalt jeder neuen Form, und so kam schon in die Melo¬
die etwas Gesuchtes und Gekünsteltes, noch mehr aber in die Stimmführung bei
Quartetten und in die Begleitung beim eigentlichen Lied. Die künstliche Begleitung
hatte uoch weniger zu sagen bei einem musikalischen Genius wie Franz Schubert,
der durch die Macht seiner Melodie den wesentlichen Charakter immer behauptete,
und dessen Kahn, um ein sehr glückliches Bild Wagners nachzuahmen, ein so
festes Steuerruder hatte, daß er sich durch das Geschaukel der Wellen von seinem
Ziel nicht abbringen ließ. Seit dem ist aber in die Musik etwas Neflectirtes
eingetreten, das zwar noch sehr schone Blüthen hervorgebracht hat, aber doch
Blüthen mit einer etwas krankhaften Farbe. Der eigentliche Sinn des Gesangs
ist doch, daß man den Empfindungen den freiesten Zug läßt, ihnen eine Kraft
des Ausdrucks verleiht, welche die gewöhnliche Sprache nicht erreichen würde.
In unsrer neuesten Liedercomposition gilt es aber vorzugsweise für ästhetisch, diesen
freien Ausdruck zurückzuhalten, und wenn man gerade den vollsten Strom der
Empfindung erwartet, statt dessen durch ein sinniges Maß zu überraschen. Wir


in der Reinheit und Eleganz der Form. In dieser ist ihm nur Goethe zu vergleichen,
denn auch bei Heine finden sich in den schönstew Liedern fast überall einzelne
Stellen, die gegen dje Stimmung verstoßen. Uhland's Manier ist seit der Zeit
so allgemein üblich geworden, und sie ist anch im Aeußerlichen so leicht nachzuahmen,
daß mau den Unterschied gewöhnlich übersieht. Mau nehme aber ein beliebiges
Gedicht, am besten ein solches, worin er einen gegebenen Stoff behandelt, z. B.
den Grafen Eberstein, und lese es mit vorzüglicher Aufmerksamkeit auf den
Styl, so wird mau Feinheiten entdecken, die gewöhnlich unbeachtet bleiben.
Die Melodie dieses Styls .dehnt sich auf die Reihenfolge der Bilder und
Empfindungen aus, die der Musik auf das Günstigste entgegenarbeiten. Wir
haben aber bereits bemerkt, daß in dieser Form des Liedes zugleich der Keim
eiuer üble» Verirrung enthalten war. Bei dem alten schwäbischen Volks¬
lied, dem Vorbilde des Dichters, ist wenigstens für uns die Melodie mit dem
Inhalt so unzertrennlich verbunden, daß wir das Eine ohne das Andere gar nicht
denken können. So z. B. in dem bekannten: „Jetzt gang i ans Brünnele u. s. w."
Die Melodie ist einfach und klingt leicht ins Ohr, die Worte des Textes
schmiegen sich ihr lose und mit einer gewissen anmuthigen Freiheit an. So blieb
auch im Wesentlichen die Komposition in der Neichhardt'schen Zeit, obgleich das
Verhältniß hier bereits ein künstliches war,, weil zwei verschiedene bestimmte Indivi¬
dualitäten neben einander treten mußten. Nun kam es aber bald, daß die Zahl
der Compositionen über die Zahl der brauchbaren Lieder hinausging. Fast jeder
neue Componist bemühte sich, die nämlichen Lieder, die ihm in einer frühern
Composttivu gefallen hatten, auf seine Weise in Musik zu setzen, und es war
natürlich, daß er sich lieber den seltsamsten Einfällen überließ, als daß er sich
dem Verdacht der bloßen Nachahmung ausgesetzt hätte. Die Texte selbst bequemten
sich bei ihrem geringen Inhalt jeder neuen Form, und so kam schon in die Melo¬
die etwas Gesuchtes und Gekünsteltes, noch mehr aber in die Stimmführung bei
Quartetten und in die Begleitung beim eigentlichen Lied. Die künstliche Begleitung
hatte uoch weniger zu sagen bei einem musikalischen Genius wie Franz Schubert,
der durch die Macht seiner Melodie den wesentlichen Charakter immer behauptete,
und dessen Kahn, um ein sehr glückliches Bild Wagners nachzuahmen, ein so
festes Steuerruder hatte, daß er sich durch das Geschaukel der Wellen von seinem
Ziel nicht abbringen ließ. Seit dem ist aber in die Musik etwas Neflectirtes
eingetreten, das zwar noch sehr schone Blüthen hervorgebracht hat, aber doch
Blüthen mit einer etwas krankhaften Farbe. Der eigentliche Sinn des Gesangs
ist doch, daß man den Empfindungen den freiesten Zug läßt, ihnen eine Kraft
des Ausdrucks verleiht, welche die gewöhnliche Sprache nicht erreichen würde.
In unsrer neuesten Liedercomposition gilt es aber vorzugsweise für ästhetisch, diesen
freien Ausdruck zurückzuhalten, und wenn man gerade den vollsten Strom der
Empfindung erwartet, statt dessen durch ein sinniges Maß zu überraschen. Wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/59>, abgerufen am 22.12.2024.