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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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willkürlich zu behandeln geneigt ist. Dieser Umstand darf bei dem Stück nicht
aus den Augen gelassen werden. Nathan ist nicht blos Jude in dem Sinn, wie
Saladin Muhamedaner und der Tempelherr Christ ist, als Angehöriger einer be¬
stimmten Religion, sondern auch als Angehöriger eines Krämcrvvlks, auf welches
die kriegerischen Nationen mit Verachtung herabsehen. Den Christen läßt Sa-
ladin köpfen, den Juden schraubt er ohne weitere Bedenken. Das Gefühl
dieser Stellung ist sehr lebhaft in Nathan, und es ist daher sehr unangemessen,
ihn mit der Vornehmheit eines Philosophen und der Salbung eines Heiligen den
Anderen entgegentreten zu lassen. Nathan ist ein Weiser, aber doch ein Weiser
von anderer Beschaffenheit, als König Salomo, als Sokrates, er hat seine Weisheit
im Staube gefunden, und wenn sein überlegener Verstand und das Bewußtsein
von der Heiligkeit seines Lebens auch seinen Geist frei macht, seine Stellung
bleibt eine gebeugte. Die Art und Weise, wie er sich zuerst dem Tempelherrn
nähert, wie er zuerst Saladin gegenübertritt, wie er diesem noch in der letzten
Scene anheim stellt, ob er seine Verwandten anerkennen wolle oder nicht, sind
nicht Züge eines allgemein menschlichen Weisen, sondern eines specifisch jüdischen
Weisen. Er trägt mit Absicht die endliche Seite seines Wesens, seine Stellung
als Kaufmann ze. überall zur Schau; sein Inneres eröffnet er nur einmal, in
der Scene mit dem.Klosterbruder, eiuer einfältigen, aber gut geartete" Natur,
vor der er sich uicht zu schämen braucht. Dieses Bewußtsein, sich beständig zurück¬
halten zu müssen, läßt in ihm gerade jene warme Liebe zu feurigen Charakteren,
wie der junge Tempelherr, aufgehen, der mit kühner zuversichtlicher Rücksichts¬
losigkeit jedem seiner Gefühle freien Ausbruch verstattet, einerlei, ob es normal
ist oder nicht. Er befreit sich von diesem doch immer etwas drückenden Gefühl
nur durch seinen seinen Humor, den zu unterdrücken von Seite des Schauspielers
eine wahre Sünde gegen den Geist der Poesie ist. Am freiesten entfaltet sich
dieser Humor gegen Daja, in der er eine Art von wunderlicher Tollheit steht
und schont; aber anch gegen den Derwisch, mit dem er tändelt; gegen Saladin,
in der Wendung, wo er ihm sein Geld anbietet; gegen den Tempelherrn, wo
dieser ihm erklärt, er habe ihm "kurz und gut" das Messer an die Kehle setzen
wollen, und Nathan mit bescheidenem Scherz erwidert, das Gute an der Sache
sehe er allerdings nicht. Diese Seite muß in Nathan deutlicher herausgehoben
werden; aber auch noch eine andere, das unruhige Drängen und Treiben seines
Verstandes, das seiner Nation überhaupt eigen ist. Wenn er seine Sprüche in
beständiger feierlicher Salbung hersagt, so wird er unerträglich langweilig, während
sein scharfes Umherspürcn nach allen Combinationen, die dem gewöhnlichen Blick
entgehen, durchaus dramatisch versinnlicht werden kann. Mau muß sich überhaupt
darau gewöhnen, die Weisheit nicht in einer conventionellen Maske zu suchen.
Alexander fand die Weisheit in der Tonne des Diogenes, Sokrates in jenein
Symposion, wo er bis zuletzt nüchtern blieb, nachdem alle anderen Gäste unter


willkürlich zu behandeln geneigt ist. Dieser Umstand darf bei dem Stück nicht
aus den Augen gelassen werden. Nathan ist nicht blos Jude in dem Sinn, wie
Saladin Muhamedaner und der Tempelherr Christ ist, als Angehöriger einer be¬
stimmten Religion, sondern auch als Angehöriger eines Krämcrvvlks, auf welches
die kriegerischen Nationen mit Verachtung herabsehen. Den Christen läßt Sa-
ladin köpfen, den Juden schraubt er ohne weitere Bedenken. Das Gefühl
dieser Stellung ist sehr lebhaft in Nathan, und es ist daher sehr unangemessen,
ihn mit der Vornehmheit eines Philosophen und der Salbung eines Heiligen den
Anderen entgegentreten zu lassen. Nathan ist ein Weiser, aber doch ein Weiser
von anderer Beschaffenheit, als König Salomo, als Sokrates, er hat seine Weisheit
im Staube gefunden, und wenn sein überlegener Verstand und das Bewußtsein
von der Heiligkeit seines Lebens auch seinen Geist frei macht, seine Stellung
bleibt eine gebeugte. Die Art und Weise, wie er sich zuerst dem Tempelherrn
nähert, wie er zuerst Saladin gegenübertritt, wie er diesem noch in der letzten
Scene anheim stellt, ob er seine Verwandten anerkennen wolle oder nicht, sind
nicht Züge eines allgemein menschlichen Weisen, sondern eines specifisch jüdischen
Weisen. Er trägt mit Absicht die endliche Seite seines Wesens, seine Stellung
als Kaufmann ze. überall zur Schau; sein Inneres eröffnet er nur einmal, in
der Scene mit dem.Klosterbruder, eiuer einfältigen, aber gut geartete» Natur,
vor der er sich uicht zu schämen braucht. Dieses Bewußtsein, sich beständig zurück¬
halten zu müssen, läßt in ihm gerade jene warme Liebe zu feurigen Charakteren,
wie der junge Tempelherr, aufgehen, der mit kühner zuversichtlicher Rücksichts¬
losigkeit jedem seiner Gefühle freien Ausbruch verstattet, einerlei, ob es normal
ist oder nicht. Er befreit sich von diesem doch immer etwas drückenden Gefühl
nur durch seinen seinen Humor, den zu unterdrücken von Seite des Schauspielers
eine wahre Sünde gegen den Geist der Poesie ist. Am freiesten entfaltet sich
dieser Humor gegen Daja, in der er eine Art von wunderlicher Tollheit steht
und schont; aber anch gegen den Derwisch, mit dem er tändelt; gegen Saladin,
in der Wendung, wo er ihm sein Geld anbietet; gegen den Tempelherrn, wo
dieser ihm erklärt, er habe ihm „kurz und gut" das Messer an die Kehle setzen
wollen, und Nathan mit bescheidenem Scherz erwidert, das Gute an der Sache
sehe er allerdings nicht. Diese Seite muß in Nathan deutlicher herausgehoben
werden; aber auch noch eine andere, das unruhige Drängen und Treiben seines
Verstandes, das seiner Nation überhaupt eigen ist. Wenn er seine Sprüche in
beständiger feierlicher Salbung hersagt, so wird er unerträglich langweilig, während
sein scharfes Umherspürcn nach allen Combinationen, die dem gewöhnlichen Blick
entgehen, durchaus dramatisch versinnlicht werden kann. Mau muß sich überhaupt
darau gewöhnen, die Weisheit nicht in einer conventionellen Maske zu suchen.
Alexander fand die Weisheit in der Tonne des Diogenes, Sokrates in jenein
Symposion, wo er bis zuletzt nüchtern blieb, nachdem alle anderen Gäste unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/478>, abgerufen am 22.12.2024.