Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.und die Gespenster sind die Hauptsache im Leben, und der Mord ist eine Tugend, Man hat es eine Zeit lang für den schlimmsten Vorwurf gehalten, den man Nun ist es wol augenscheinlich, daß bei keinem großen Dichter der Weltlite¬ und die Gespenster sind die Hauptsache im Leben, und der Mord ist eine Tugend, Man hat es eine Zeit lang für den schlimmsten Vorwurf gehalten, den man Nun ist es wol augenscheinlich, daß bei keinem großen Dichter der Weltlite¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94858"/> <p xml:id="ID_1267" prev="#ID_1266"> und die Gespenster sind die Hauptsache im Leben, und der Mord ist eine Tugend,<lb/> und der Wahnsinn ist der normale Zustand des Menschen, und was dergleichen<lb/> mehr ist. Durch dergleichen Ingredienzien wurde die Poesie allerdings bunter und<lb/> mannichfaltiger-, aber sie verlor auch allen Sinn und allen Verstand, wie das dem<lb/> Skepticismus immer begegnet. Der wirkliche Skepticismus besteht nicht, wie Herr<lb/> Ulrici zu glauben scheint, darin, daß man an Gespenstern, an Hexen, am Fegefeuer,, an<lb/> der Dreieinigkeit, an dem psychischen Doppelleben des Magnetismus zweifelt, kurz<lb/> c>n Dingen, von denen man zwar etwas Hort, die man aber nicht versteht, son¬<lb/> dern darin, daß man am Einmaleins und an den zehn Geboten zweifelt,<lb/> daß mau der lieben Sonne nicht mehr zugeben will, daß sie scheine, und<lb/> seinen Füßen, daß sie gehen. Allerdings wird sich die Wissenschaft auch diese<lb/> Fragen vorlegen müssen, aber wenn sie in das Publicum übergehen, so ist das<lb/> ein schlimmes Zeichen für. die Gesundheit des Zeitalters. Nur darum möchte»<lb/> wir unser Zeitalter mit Herrn Ulrici das Zeitalter der Fragen nennen, nicht weil<lb/> es darüber zweifelt, ob Shakespeare ein Romantiker oder ein Classiker ist,<lb/> sondern weil es darüber zweifelt, ob ein ehrlicher Mann seine» Eid brechen darf<lb/> oder nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1268"> Man hat es eine Zeit lang für den schlimmsten Vorwurf gehalten, den man<lb/> einem Poeten machen könne, wenn man behauptete, er besitze gesunden Menschen¬<lb/> verstand. Aus diesem Grunde hat man auch Lessing das Bürgerrecht in der<lb/> Poesie abgesprochen, weil'bei ihm anch der ungläubigste Thomas den gesunden<lb/> Menschenverstand nicht in Abrede stellen wird. Nun ist es freilich unzweifelhaft,<lb/> daß gesunder Menschenverstand und Poesie zwei sehr verschiedene Dinge sind,<lb/> daß man sich des erstem im höchsten Grade erfreuen kann, ohne auch uur eine<lb/> Spur von Poesie zu besitzen : aber ohne einen wirklichen, und zwar sehr starken<lb/> gesunden Menschenverstand ist ein echter Dichter nicht denkbar. Anschauungen,<lb/> Empfindungen, Inspirationen, sind die Grundlage der Poesie; aber um ihnen<lb/> Gestalt und Haltung zu geben, ist der Regulator des gesunden Menschenverstandes<lb/> und des Gewissens unumgänglich' nothwendig. Ohne diesen ist man nicht im<lb/> Stande, auch nur deu einfachsten Charakter festzuhalten. Das zeigt das Beispiel<lb/> des Novalis, der in Beziehung ans Inspiration wenig Dichtern nachsteht, dem<lb/> aber aller common senff abgeht, und bei dem daher alle Farben und Anschau¬<lb/> ungen in einander zerfließen, während Hoffmann trotz der Verschrobenheit seiner<lb/> Ansichten und Phantasien, wenn er sich nur ernstlich zusammennähen, in seiner<lb/> Seele noch immer so viel Vorrath von gesundem Menschenverstand fand, eine Ge¬<lb/> schichte abzurunden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1269" next="#ID_1270"> Nun ist es wol augenscheinlich, daß bei keinem großen Dichter der Weltlite¬<lb/> ratur dieser Regulator des Verstandes und des Gewissens so sicher und untrüglich<lb/> gegangen ist, als bei Shakespeare, wie andererseits auch wol keiner an Macht der<lb/> Leidenschaft, an Reichthum der Dctailanschauungeu und Empfindungen und an</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0417]
und die Gespenster sind die Hauptsache im Leben, und der Mord ist eine Tugend,
und der Wahnsinn ist der normale Zustand des Menschen, und was dergleichen
mehr ist. Durch dergleichen Ingredienzien wurde die Poesie allerdings bunter und
mannichfaltiger-, aber sie verlor auch allen Sinn und allen Verstand, wie das dem
Skepticismus immer begegnet. Der wirkliche Skepticismus besteht nicht, wie Herr
Ulrici zu glauben scheint, darin, daß man an Gespenstern, an Hexen, am Fegefeuer,, an
der Dreieinigkeit, an dem psychischen Doppelleben des Magnetismus zweifelt, kurz
c>n Dingen, von denen man zwar etwas Hort, die man aber nicht versteht, son¬
dern darin, daß man am Einmaleins und an den zehn Geboten zweifelt,
daß mau der lieben Sonne nicht mehr zugeben will, daß sie scheine, und
seinen Füßen, daß sie gehen. Allerdings wird sich die Wissenschaft auch diese
Fragen vorlegen müssen, aber wenn sie in das Publicum übergehen, so ist das
ein schlimmes Zeichen für. die Gesundheit des Zeitalters. Nur darum möchte»
wir unser Zeitalter mit Herrn Ulrici das Zeitalter der Fragen nennen, nicht weil
es darüber zweifelt, ob Shakespeare ein Romantiker oder ein Classiker ist,
sondern weil es darüber zweifelt, ob ein ehrlicher Mann seine» Eid brechen darf
oder nicht.
Man hat es eine Zeit lang für den schlimmsten Vorwurf gehalten, den man
einem Poeten machen könne, wenn man behauptete, er besitze gesunden Menschen¬
verstand. Aus diesem Grunde hat man auch Lessing das Bürgerrecht in der
Poesie abgesprochen, weil'bei ihm anch der ungläubigste Thomas den gesunden
Menschenverstand nicht in Abrede stellen wird. Nun ist es freilich unzweifelhaft,
daß gesunder Menschenverstand und Poesie zwei sehr verschiedene Dinge sind,
daß man sich des erstem im höchsten Grade erfreuen kann, ohne auch uur eine
Spur von Poesie zu besitzen : aber ohne einen wirklichen, und zwar sehr starken
gesunden Menschenverstand ist ein echter Dichter nicht denkbar. Anschauungen,
Empfindungen, Inspirationen, sind die Grundlage der Poesie; aber um ihnen
Gestalt und Haltung zu geben, ist der Regulator des gesunden Menschenverstandes
und des Gewissens unumgänglich' nothwendig. Ohne diesen ist man nicht im
Stande, auch nur deu einfachsten Charakter festzuhalten. Das zeigt das Beispiel
des Novalis, der in Beziehung ans Inspiration wenig Dichtern nachsteht, dem
aber aller common senff abgeht, und bei dem daher alle Farben und Anschau¬
ungen in einander zerfließen, während Hoffmann trotz der Verschrobenheit seiner
Ansichten und Phantasien, wenn er sich nur ernstlich zusammennähen, in seiner
Seele noch immer so viel Vorrath von gesundem Menschenverstand fand, eine Ge¬
schichte abzurunden.
Nun ist es wol augenscheinlich, daß bei keinem großen Dichter der Weltlite¬
ratur dieser Regulator des Verstandes und des Gewissens so sicher und untrüglich
gegangen ist, als bei Shakespeare, wie andererseits auch wol keiner an Macht der
Leidenschaft, an Reichthum der Dctailanschauungeu und Empfindungen und an
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