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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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zu Theil werden lassen; anfangen muß man damit, ihm mit sammt diesem nationalen
Bewußtsein das Brandmal der Inhumanität auszudrücken, denn seine Religion stand
aus einer Stufe mit dem mexicanischen Götzendienst, aber ohne die Rechtfertigung
der unbewußten Naivetät. Das Wort war bereits ausgesprochen worden, und
ein so eminenter Geist wie Calderon darf vor keinem Richterstuhl mehr freige¬
sprochen werden.

Wo in aller Welt ist auch mir eine Spur von diesem romantischen Geist, von
diesem blutgierigen Geist der Jnqufilion, von diesem Wahnsinn der Sclbstkrenzigung,
von dieser reflectirten Geistlosigkeit des Jesuitismus bei Shakespeare zu finden?
Freilich kommen auch bei ihm Hexen, Gespenster und Aehnliches vor, aber wie
Gewinns ganz richtig nachweist, lediglich als irrationeller Stoff, mit dem der Dichter
auf eine höchst rationelle Weise umgeht. Das sittliche Urtheil, welches Shakespeare
in all seinen Poesien ausspricht, ist überall das unsrige; ja, es steht uns selbst
näher, als das Urtheil Goethe's, weil es viel deutlicher ausgesprochen ist, --
einzelne Ausnahmen abgerechnet, auf die wir noch zurückkommen. Freilich ist
dieses Urtheil nicht so einfach und geistlos, wie das eines moralistrenden Schul¬
meisters, aber Bestimmtheit und Einfachheit sind auch nicht dasselbe. Shakespeare
versteht es wie kein anderer Dichter, uns für alle Seiten seiner concreten Er¬
scheinungen Interesse abzugewinnen. Wir werden fortgerissen von der dämonischen
Gewalt seines Richard III., aber das Gefühl dieser Größe schärft nur die Be¬
urtheilung, die wir über ihn aUssprechen müssen. Wenn also Gottsched und
Shakespeare in ihren Stücken mit gleicher Energie aus die Bestimmtheit des
moralischen Urtheils arbeiten, so ist eS darum doch eben so lächerlich, diese, beiden
Dichter zusammenzustellen, als es lächerlich ist, in den Kritikern, welche dieselbe
Grundregel befolgen, die gleiche Befangenheit zu finden. Der Elementarlehrer
weiß, daß 2 mal 2 -- 6- ist,, und Newton weiß es auch,' ja seine ganze
Weisheit wäre unmöglich, wenn er es nicht wüßte. Deshalb ist der Elementar¬
lehrer noch immer nicht dasselbe, was Newton ist.

Es ist überhaupt hier der Ort, einen Begriff wieder zu Ehren zu bringen, den
vorzugsweise die Faseleien der romantischen Schule unsren Schöngeistern verleidet
haben: den Begriff des gesunden Menschenverstandes, des Gewissens, oder wenn
wir aus die Theorie übergehen, des Nationalismus. Die Romantiker waren
allerdings in einem gewissen Recht, sich über die fortgesetzten Trivialitäten der
deutschen Aufklärer zu langweilen. Es wurde eine lange Zeit hindurch nichts
Anderes gesprochen, als "2 mal 2 ist i", und "es giebt keine Gespenster", und "es
ist wider Fug und Recht, einen Menschen meuchlings umzubringen", und was
sonst die zehn Gebote und die fünf Sinne uns an die Hand geben. Dergleichen
Gemeinplätze unausgesetzt um die Ohren schwirren zu hören, ist höchst unbequem.
Aber die Romantiker gebrauchten, um Abwechselung in diese Eintönigkeit zu bringen,
ein sehr unzweckmäßiges Mittel: sie behaupteten nämlich, 2 mal 2 macht nicht 4,


zu Theil werden lassen; anfangen muß man damit, ihm mit sammt diesem nationalen
Bewußtsein das Brandmal der Inhumanität auszudrücken, denn seine Religion stand
aus einer Stufe mit dem mexicanischen Götzendienst, aber ohne die Rechtfertigung
der unbewußten Naivetät. Das Wort war bereits ausgesprochen worden, und
ein so eminenter Geist wie Calderon darf vor keinem Richterstuhl mehr freige¬
sprochen werden.

Wo in aller Welt ist auch mir eine Spur von diesem romantischen Geist, von
diesem blutgierigen Geist der Jnqufilion, von diesem Wahnsinn der Sclbstkrenzigung,
von dieser reflectirten Geistlosigkeit des Jesuitismus bei Shakespeare zu finden?
Freilich kommen auch bei ihm Hexen, Gespenster und Aehnliches vor, aber wie
Gewinns ganz richtig nachweist, lediglich als irrationeller Stoff, mit dem der Dichter
auf eine höchst rationelle Weise umgeht. Das sittliche Urtheil, welches Shakespeare
in all seinen Poesien ausspricht, ist überall das unsrige; ja, es steht uns selbst
näher, als das Urtheil Goethe's, weil es viel deutlicher ausgesprochen ist, —
einzelne Ausnahmen abgerechnet, auf die wir noch zurückkommen. Freilich ist
dieses Urtheil nicht so einfach und geistlos, wie das eines moralistrenden Schul¬
meisters, aber Bestimmtheit und Einfachheit sind auch nicht dasselbe. Shakespeare
versteht es wie kein anderer Dichter, uns für alle Seiten seiner concreten Er¬
scheinungen Interesse abzugewinnen. Wir werden fortgerissen von der dämonischen
Gewalt seines Richard III., aber das Gefühl dieser Größe schärft nur die Be¬
urtheilung, die wir über ihn aUssprechen müssen. Wenn also Gottsched und
Shakespeare in ihren Stücken mit gleicher Energie aus die Bestimmtheit des
moralischen Urtheils arbeiten, so ist eS darum doch eben so lächerlich, diese, beiden
Dichter zusammenzustellen, als es lächerlich ist, in den Kritikern, welche dieselbe
Grundregel befolgen, die gleiche Befangenheit zu finden. Der Elementarlehrer
weiß, daß 2 mal 2 — 6- ist,, und Newton weiß es auch,' ja seine ganze
Weisheit wäre unmöglich, wenn er es nicht wüßte. Deshalb ist der Elementar¬
lehrer noch immer nicht dasselbe, was Newton ist.

Es ist überhaupt hier der Ort, einen Begriff wieder zu Ehren zu bringen, den
vorzugsweise die Faseleien der romantischen Schule unsren Schöngeistern verleidet
haben: den Begriff des gesunden Menschenverstandes, des Gewissens, oder wenn
wir aus die Theorie übergehen, des Nationalismus. Die Romantiker waren
allerdings in einem gewissen Recht, sich über die fortgesetzten Trivialitäten der
deutschen Aufklärer zu langweilen. Es wurde eine lange Zeit hindurch nichts
Anderes gesprochen, als „2 mal 2 ist i", und „es giebt keine Gespenster", und „es
ist wider Fug und Recht, einen Menschen meuchlings umzubringen", und was
sonst die zehn Gebote und die fünf Sinne uns an die Hand geben. Dergleichen
Gemeinplätze unausgesetzt um die Ohren schwirren zu hören, ist höchst unbequem.
Aber die Romantiker gebrauchten, um Abwechselung in diese Eintönigkeit zu bringen,
ein sehr unzweckmäßiges Mittel: sie behaupteten nämlich, 2 mal 2 macht nicht 4,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/416>, abgerufen am 22.12.2024.