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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Schärfe des Witzes ihm an die Seite zu stellen ist. Da man das Letztere bis
dahin ziemlich einseitig in den Vordergrund gestellt hatte, so war es von- Gervinus
sehr zweckmäßig, einmal das Erstere schärfer zu accentuiren.

Wir wollen übrigens nicht in. Abrede stellen, das? Ulrici in manchen Vor¬
würfen gegen Gervinus und Vehse vollkommen Recht hat. Daß der Letztere die
charakteristischen Momente in Shakespeare's Poesie in den einfachen Begriff des
Humors zusammenfaßt, ist offenbar eine Einseitigkeit, und Gervinus sündigt
wieder darin, daß er sein moralisches - Princip in Shakespeare bis in'S kleinste
Detail nachzuweisen strebt, und daher nicht selten den Gegenständen Gewalt anthut.
Shakespeare hat Vieles ganz in der phantastisch-novellistischen Weise seiner Vor¬
bilder, Manches in der materialistischen Manier der späteren englischen Dichter
geschrieben, und in einigen seiner Stücke ist sein Princip so in's Maßlose aus¬
gedehnt, daß es bis zu einem gewissen Grade sich selber aufhebt. Wenn die
Kritik im Sommernachtstraum, im Cäsar und im Hamlet die nämliche Richtung
zu verfolgen strebt, so verfährt sie nicht objectiv. Wenn man aber von einem ,
Dichter, der eine eminente Stellung in der Weltliteratur einnimmt, ein charakteri¬
stisches Moment des Gedankens oder des 'Gefühls als dasjenige hervorhebt, was
er gleichsam für die Welt man geschaffen hat, so meint man damit noch gar nicht, daß
man es in allen seinen Werken in der gleichen Schärfe und Vollständigkeit wieder
antreffen könne. Ulrici hat ja selber ein solches Princip in Shakespeare heraus¬
gefunden, wenn es auch etwas allgemein und farblos'aussteht. , > '

Wir werden wol immer darauf zurückkommen müssen, Shakespeare's eigent¬
liches Wesen/in seiner protestantischen Gesinnung zu suchen. Allerdings macht
ihn nicht dieses Princip zum großen Dichter, sondern seine Fähigkeit, Leidenschaften
"ut Charaktere im Detail zu verfolgen und sie in einem großen Sinn zu fassen;
aber dieses Princip giebt ihm seine Stellung in der Weltliteratur, und da es.
auch noch das "nsrige sein muß, so dürfte es nicht unangemessen sein, mit einigen
Worten ans die Bedeutung desselben einzugehen.

Im Mittelalter war durch deu Umstand, daß das Christenthum nicht als
ein organischer Entwickelungsproceß des germanischen Volkslebens, sondern durch
einen äußerlichen Einfluß zum Brennpunkt aller bedeutenderen Lebensverhältnisse
festgestellt war, zwischen dem idealen Leben und dem wirklichen Leben des Volks
eine Kluft entstanden, die man sich Mir zuweilen auszufüllen bemühte, die aber doch
immer wieder hervortrat, wo es sich um irgend eine ernstere Frage handelte.. In
diesem Sinn hat man das Mittelalter romantisch genannt, d. h. romanisch, um
ein Mischvolk zu bezeichnen, welches seine natürlichen Verhältnisse von den Ger¬
manen, und seine idealen Vorstellungen von den Römern geerbt hatte. Da, wo
diese Mischung am wenigsten stattgefunden hatte, d. h. in Deutschland, findet
sich auch verhältnißmäßig am wenigsten Romantik, obgleich auch hier, seit der
Zeit der Kreuzzüge eine Poesie entstand, die auf rein snpranatnralistischen und


Schärfe des Witzes ihm an die Seite zu stellen ist. Da man das Letztere bis
dahin ziemlich einseitig in den Vordergrund gestellt hatte, so war es von- Gervinus
sehr zweckmäßig, einmal das Erstere schärfer zu accentuiren.

Wir wollen übrigens nicht in. Abrede stellen, das? Ulrici in manchen Vor¬
würfen gegen Gervinus und Vehse vollkommen Recht hat. Daß der Letztere die
charakteristischen Momente in Shakespeare's Poesie in den einfachen Begriff des
Humors zusammenfaßt, ist offenbar eine Einseitigkeit, und Gervinus sündigt
wieder darin, daß er sein moralisches - Princip in Shakespeare bis in'S kleinste
Detail nachzuweisen strebt, und daher nicht selten den Gegenständen Gewalt anthut.
Shakespeare hat Vieles ganz in der phantastisch-novellistischen Weise seiner Vor¬
bilder, Manches in der materialistischen Manier der späteren englischen Dichter
geschrieben, und in einigen seiner Stücke ist sein Princip so in's Maßlose aus¬
gedehnt, daß es bis zu einem gewissen Grade sich selber aufhebt. Wenn die
Kritik im Sommernachtstraum, im Cäsar und im Hamlet die nämliche Richtung
zu verfolgen strebt, so verfährt sie nicht objectiv. Wenn man aber von einem ,
Dichter, der eine eminente Stellung in der Weltliteratur einnimmt, ein charakteri¬
stisches Moment des Gedankens oder des 'Gefühls als dasjenige hervorhebt, was
er gleichsam für die Welt man geschaffen hat, so meint man damit noch gar nicht, daß
man es in allen seinen Werken in der gleichen Schärfe und Vollständigkeit wieder
antreffen könne. Ulrici hat ja selber ein solches Princip in Shakespeare heraus¬
gefunden, wenn es auch etwas allgemein und farblos'aussteht. , > '

Wir werden wol immer darauf zurückkommen müssen, Shakespeare's eigent¬
liches Wesen/in seiner protestantischen Gesinnung zu suchen. Allerdings macht
ihn nicht dieses Princip zum großen Dichter, sondern seine Fähigkeit, Leidenschaften
»ut Charaktere im Detail zu verfolgen und sie in einem großen Sinn zu fassen;
aber dieses Princip giebt ihm seine Stellung in der Weltliteratur, und da es.
auch noch das »nsrige sein muß, so dürfte es nicht unangemessen sein, mit einigen
Worten ans die Bedeutung desselben einzugehen.

Im Mittelalter war durch deu Umstand, daß das Christenthum nicht als
ein organischer Entwickelungsproceß des germanischen Volkslebens, sondern durch
einen äußerlichen Einfluß zum Brennpunkt aller bedeutenderen Lebensverhältnisse
festgestellt war, zwischen dem idealen Leben und dem wirklichen Leben des Volks
eine Kluft entstanden, die man sich Mir zuweilen auszufüllen bemühte, die aber doch
immer wieder hervortrat, wo es sich um irgend eine ernstere Frage handelte.. In
diesem Sinn hat man das Mittelalter romantisch genannt, d. h. romanisch, um
ein Mischvolk zu bezeichnen, welches seine natürlichen Verhältnisse von den Ger¬
manen, und seine idealen Vorstellungen von den Römern geerbt hatte. Da, wo
diese Mischung am wenigsten stattgefunden hatte, d. h. in Deutschland, findet
sich auch verhältnißmäßig am wenigsten Romantik, obgleich auch hier, seit der
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[0418] Schärfe des Witzes ihm an die Seite zu stellen ist. Da man das Letztere bis dahin ziemlich einseitig in den Vordergrund gestellt hatte, so war es von- Gervinus sehr zweckmäßig, einmal das Erstere schärfer zu accentuiren. Wir wollen übrigens nicht in. Abrede stellen, das? Ulrici in manchen Vor¬ würfen gegen Gervinus und Vehse vollkommen Recht hat. Daß der Letztere die charakteristischen Momente in Shakespeare's Poesie in den einfachen Begriff des Humors zusammenfaßt, ist offenbar eine Einseitigkeit, und Gervinus sündigt wieder darin, daß er sein moralisches - Princip in Shakespeare bis in'S kleinste Detail nachzuweisen strebt, und daher nicht selten den Gegenständen Gewalt anthut. Shakespeare hat Vieles ganz in der phantastisch-novellistischen Weise seiner Vor¬ bilder, Manches in der materialistischen Manier der späteren englischen Dichter geschrieben, und in einigen seiner Stücke ist sein Princip so in's Maßlose aus¬ gedehnt, daß es bis zu einem gewissen Grade sich selber aufhebt. Wenn die Kritik im Sommernachtstraum, im Cäsar und im Hamlet die nämliche Richtung zu verfolgen strebt, so verfährt sie nicht objectiv. Wenn man aber von einem , Dichter, der eine eminente Stellung in der Weltliteratur einnimmt, ein charakteri¬ stisches Moment des Gedankens oder des 'Gefühls als dasjenige hervorhebt, was er gleichsam für die Welt man geschaffen hat, so meint man damit noch gar nicht, daß man es in allen seinen Werken in der gleichen Schärfe und Vollständigkeit wieder antreffen könne. Ulrici hat ja selber ein solches Princip in Shakespeare heraus¬ gefunden, wenn es auch etwas allgemein und farblos'aussteht. , > ' Wir werden wol immer darauf zurückkommen müssen, Shakespeare's eigent¬ liches Wesen/in seiner protestantischen Gesinnung zu suchen. Allerdings macht ihn nicht dieses Princip zum großen Dichter, sondern seine Fähigkeit, Leidenschaften »ut Charaktere im Detail zu verfolgen und sie in einem großen Sinn zu fassen; aber dieses Princip giebt ihm seine Stellung in der Weltliteratur, und da es. auch noch das »nsrige sein muß, so dürfte es nicht unangemessen sein, mit einigen Worten ans die Bedeutung desselben einzugehen. Im Mittelalter war durch deu Umstand, daß das Christenthum nicht als ein organischer Entwickelungsproceß des germanischen Volkslebens, sondern durch einen äußerlichen Einfluß zum Brennpunkt aller bedeutenderen Lebensverhältnisse festgestellt war, zwischen dem idealen Leben und dem wirklichen Leben des Volks eine Kluft entstanden, die man sich Mir zuweilen auszufüllen bemühte, die aber doch immer wieder hervortrat, wo es sich um irgend eine ernstere Frage handelte.. In diesem Sinn hat man das Mittelalter romantisch genannt, d. h. romanisch, um ein Mischvolk zu bezeichnen, welches seine natürlichen Verhältnisse von den Ger¬ manen, und seine idealen Vorstellungen von den Römern geerbt hatte. Da, wo diese Mischung am wenigsten stattgefunden hatte, d. h. in Deutschland, findet sich auch verhältnißmäßig am wenigsten Romantik, obgleich auch hier, seit der Zeit der Kreuzzüge eine Poesie entstand, die auf rein snpranatnralistischen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/418>, abgerufen am 22.12.2024.