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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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als Symphonien und andere Instrumentalmusik. Wenn man in jeder musikalischen
Aufführung das zu Grunde liegende Tommaterial von den rein harmonischen
und rhythmischen Combinationen unterscheiden muß, so hängt es ebeu vou der
Beschaffenheit dieser beiden Seiten ab, auf welche von ihnen das Uebergewicht
fällt. Schon die Natur hat dafür gesorgt, daß die menschliche Stimme,
die durch Schönheit des Tons jedem Instrument überlege" ist, in Betreff der
Mannichfaltigkeit des Ausführbaren den meisten Instrumenten nachsteht. Das
eigentlich Musikalische wird soweit für ein Orchester stets das Ueberwiegende
bleiben, und für die menschliche Stimme entweder die sinnliche Tvnwirtung oder
die geistige Macht des Ausdrucks.

Außer deu genannten kirchlichen Concerten fanden noch manche andere von
geringerer Bedeutung statt. Ich erwähne von diesen nur die Arbeit eines den
höchsten Kreisen angehörigen Dilettanten, ein Requiem, das der Sternsche Verein
vortrefflich zur Aufführung brachte. Die Komposition enthält wenig eigentliche
Erfindung, zeugt aber von einem gebildeten Geschmack und von sicherer Wehere
schung der Formen. Breite und schöne Melodien vermißten wir fast gänzlich,
die Deklamation ist aber meistens durchaus treffend und wahr.

Ich gehe zur Oper über, die unter der Leitung des Herrn v. Hülsen in
mancher Beziehung gewonnen hat. Zunächst will ich Ihnen eine Uebersicht über
die Kräfte derselben geben. Ueber Frl. Wagner muß ich mich in der Haupt¬
sache auf meinen vorjährigen Bericht beziehen und kann nur hinzufügen, daß sich
diese Künstlerin im Ganzen mit Erfolg bemüht, sich von den Uebertreibungen des
Ausdrucks, zu denen sie sich nicht selten fortreißen ließ, zu reinigen. Sie hat
uns im letzten Winter einige- herrliche Leistungen vorgeführt, namentlich die Sta-
tira und die Eglantine, in denen sie ebenso durch die Macht nud Schönheit ihrer
Stimme, als dnrch die Einfachheit und. Größe der Auffassung das Höchste erreichte.
Aber nicht jede Rolle verträgt eine einfache Auffassung. Und so sehr wir gegen
einen quantitativ zu starken Ausdruck protestire" müssen, so sehr müssen wir an¬
dererseits eine 'größere Mannichfaltigkeit, eine feinere Nuancirung des Ausdrucks
wünschen. Frl. Wagner wirkt immer nur durch die natürlichen Mittel, die sie be¬
sitzt, und dnrch die Fähigkeit, in die allgemeinen Gegensätze des Empfindungslebens
einzudringen; aber über das allgemeine Pathos, das z. B. dem Spontini'schen Geist
ganz anpassend ist, vermag sie sich nicht zu erheben, in die Individualität dringt
sie uicht ein. Dies ist die große Gabe Roger's, auch die Casiellan besaß sie in
höherm Grade, als die meisten deutschen Sänger. Selbst Frau Kost er ist in
dieser Beziehung ihrer glücklichen Nebenbuhlerin überlegen. Was ihrer Stimme
an schönem, runden Klang abgeht, ersetzt sie dnrch Feinheit des Verständnisses.
Ihre Auffassung enthält freilich nichts, was genial genannt werden könnte; aber
sie besitzt eindringenden Verstand und Maß im Ausdruck. Frau Herrenburger-
Tuczek vertritt ihr Genre noch immer erfreulich; Frl. Trietsch, Frau Bötticher,


als Symphonien und andere Instrumentalmusik. Wenn man in jeder musikalischen
Aufführung das zu Grunde liegende Tommaterial von den rein harmonischen
und rhythmischen Combinationen unterscheiden muß, so hängt es ebeu vou der
Beschaffenheit dieser beiden Seiten ab, auf welche von ihnen das Uebergewicht
fällt. Schon die Natur hat dafür gesorgt, daß die menschliche Stimme,
die durch Schönheit des Tons jedem Instrument überlege» ist, in Betreff der
Mannichfaltigkeit des Ausführbaren den meisten Instrumenten nachsteht. Das
eigentlich Musikalische wird soweit für ein Orchester stets das Ueberwiegende
bleiben, und für die menschliche Stimme entweder die sinnliche Tvnwirtung oder
die geistige Macht des Ausdrucks.

Außer deu genannten kirchlichen Concerten fanden noch manche andere von
geringerer Bedeutung statt. Ich erwähne von diesen nur die Arbeit eines den
höchsten Kreisen angehörigen Dilettanten, ein Requiem, das der Sternsche Verein
vortrefflich zur Aufführung brachte. Die Komposition enthält wenig eigentliche
Erfindung, zeugt aber von einem gebildeten Geschmack und von sicherer Wehere
schung der Formen. Breite und schöne Melodien vermißten wir fast gänzlich,
die Deklamation ist aber meistens durchaus treffend und wahr.

Ich gehe zur Oper über, die unter der Leitung des Herrn v. Hülsen in
mancher Beziehung gewonnen hat. Zunächst will ich Ihnen eine Uebersicht über
die Kräfte derselben geben. Ueber Frl. Wagner muß ich mich in der Haupt¬
sache auf meinen vorjährigen Bericht beziehen und kann nur hinzufügen, daß sich
diese Künstlerin im Ganzen mit Erfolg bemüht, sich von den Uebertreibungen des
Ausdrucks, zu denen sie sich nicht selten fortreißen ließ, zu reinigen. Sie hat
uns im letzten Winter einige- herrliche Leistungen vorgeführt, namentlich die Sta-
tira und die Eglantine, in denen sie ebenso durch die Macht nud Schönheit ihrer
Stimme, als dnrch die Einfachheit und. Größe der Auffassung das Höchste erreichte.
Aber nicht jede Rolle verträgt eine einfache Auffassung. Und so sehr wir gegen
einen quantitativ zu starken Ausdruck protestire» müssen, so sehr müssen wir an¬
dererseits eine 'größere Mannichfaltigkeit, eine feinere Nuancirung des Ausdrucks
wünschen. Frl. Wagner wirkt immer nur durch die natürlichen Mittel, die sie be¬
sitzt, und dnrch die Fähigkeit, in die allgemeinen Gegensätze des Empfindungslebens
einzudringen; aber über das allgemeine Pathos, das z. B. dem Spontini'schen Geist
ganz anpassend ist, vermag sie sich nicht zu erheben, in die Individualität dringt
sie uicht ein. Dies ist die große Gabe Roger's, auch die Casiellan besaß sie in
höherm Grade, als die meisten deutschen Sänger. Selbst Frau Kost er ist in
dieser Beziehung ihrer glücklichen Nebenbuhlerin überlegen. Was ihrer Stimme
an schönem, runden Klang abgeht, ersetzt sie dnrch Feinheit des Verständnisses.
Ihre Auffassung enthält freilich nichts, was genial genannt werden könnte; aber
sie besitzt eindringenden Verstand und Maß im Ausdruck. Frau Herrenburger-
Tuczek vertritt ihr Genre noch immer erfreulich; Frl. Trietsch, Frau Bötticher,


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[0324] als Symphonien und andere Instrumentalmusik. Wenn man in jeder musikalischen Aufführung das zu Grunde liegende Tommaterial von den rein harmonischen und rhythmischen Combinationen unterscheiden muß, so hängt es ebeu vou der Beschaffenheit dieser beiden Seiten ab, auf welche von ihnen das Uebergewicht fällt. Schon die Natur hat dafür gesorgt, daß die menschliche Stimme, die durch Schönheit des Tons jedem Instrument überlege» ist, in Betreff der Mannichfaltigkeit des Ausführbaren den meisten Instrumenten nachsteht. Das eigentlich Musikalische wird soweit für ein Orchester stets das Ueberwiegende bleiben, und für die menschliche Stimme entweder die sinnliche Tvnwirtung oder die geistige Macht des Ausdrucks. Außer deu genannten kirchlichen Concerten fanden noch manche andere von geringerer Bedeutung statt. Ich erwähne von diesen nur die Arbeit eines den höchsten Kreisen angehörigen Dilettanten, ein Requiem, das der Sternsche Verein vortrefflich zur Aufführung brachte. Die Komposition enthält wenig eigentliche Erfindung, zeugt aber von einem gebildeten Geschmack und von sicherer Wehere schung der Formen. Breite und schöne Melodien vermißten wir fast gänzlich, die Deklamation ist aber meistens durchaus treffend und wahr. Ich gehe zur Oper über, die unter der Leitung des Herrn v. Hülsen in mancher Beziehung gewonnen hat. Zunächst will ich Ihnen eine Uebersicht über die Kräfte derselben geben. Ueber Frl. Wagner muß ich mich in der Haupt¬ sache auf meinen vorjährigen Bericht beziehen und kann nur hinzufügen, daß sich diese Künstlerin im Ganzen mit Erfolg bemüht, sich von den Uebertreibungen des Ausdrucks, zu denen sie sich nicht selten fortreißen ließ, zu reinigen. Sie hat uns im letzten Winter einige- herrliche Leistungen vorgeführt, namentlich die Sta- tira und die Eglantine, in denen sie ebenso durch die Macht nud Schönheit ihrer Stimme, als dnrch die Einfachheit und. Größe der Auffassung das Höchste erreichte. Aber nicht jede Rolle verträgt eine einfache Auffassung. Und so sehr wir gegen einen quantitativ zu starken Ausdruck protestire» müssen, so sehr müssen wir an¬ dererseits eine 'größere Mannichfaltigkeit, eine feinere Nuancirung des Ausdrucks wünschen. Frl. Wagner wirkt immer nur durch die natürlichen Mittel, die sie be¬ sitzt, und dnrch die Fähigkeit, in die allgemeinen Gegensätze des Empfindungslebens einzudringen; aber über das allgemeine Pathos, das z. B. dem Spontini'schen Geist ganz anpassend ist, vermag sie sich nicht zu erheben, in die Individualität dringt sie uicht ein. Dies ist die große Gabe Roger's, auch die Casiellan besaß sie in höherm Grade, als die meisten deutschen Sänger. Selbst Frau Kost er ist in dieser Beziehung ihrer glücklichen Nebenbuhlerin überlegen. Was ihrer Stimme an schönem, runden Klang abgeht, ersetzt sie dnrch Feinheit des Verständnisses. Ihre Auffassung enthält freilich nichts, was genial genannt werden könnte; aber sie besitzt eindringenden Verstand und Maß im Ausdruck. Frau Herrenburger- Tuczek vertritt ihr Genre noch immer erfreulich; Frl. Trietsch, Frau Bötticher,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/324>, abgerufen am 22.12.2024.