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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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bindungen in den Besitz des vielfach zerstreuten und verborgenen Materials bringe.
Die Schatze mehrerer in das kirchliche Leben versenkter Jahrhunderte sind mit
dem kirchlichen Sinn selbst in Vergessenheit gerathen, und eS sind uicht immer
gerade die eigenthümlichste,; und interessantesten Werke, die durch den Druck all¬
gemeiner zugänglich geworden sind. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß eS dem
Domchor, wenn er dieser Idee nachstrebt, gelinge" wird, sich dauernd mit Con¬
certen dieser Art zu befestigen, die theils in dem historischen Interesse für Musik,
theils in der Idealität der menschlichen Stimme einen sichern Boden haben; aber
er muß dahin streben, ein Princip mit Entschiedenheit zu vertreten; das bunte
Allerlei steigt und fällt mit der Mode. , In den Concerten dieses Winters --
es waren drei, an der Zahl -- kommen Sachen von Palestrina, Durante, Lotti,
Cvrsi, Seb. Bach, Haydn, Mendelssohn,,-Mozart, Orlando, Lasso u. A. zur
Aufführung. Den meisten Beifall schien eine Motette von Bach ("ich lasse dich
nicht"; wahrscheinlich ist nicht Sebastian, sondern ein Sohn desselben, der Bücke-
burger Bach, Verfasser derselben), ein Misericordias von Dnrante und das acht¬
stimmige Crucifixus vou Lotti zu finden. Die Palcstrinaschen Chöre, die in
ihrer Haltung etwas Metaphysisches haben, sind der Mehrzahl bis jetzt unzugänglich.
Neuere Compositionen von Mendelssohn u. tgi. konnten ebenfalls sich nicht neben
classischen Werken des vorigen Jahrhunderts behaupten. ES behaup¬
teten also diejenigen Werke, und zwar mit vollem Recht, den Vorrang, die etwa
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhundert angehören. -- In der Ausführung
dieser chorischen Compositionen leistet der Domchor Ausgezeichnetes. Nach den
Mittheilungen derer, die deu Domchor sowol als die Sixtinische Capelle ken¬
nen/ unterscheiden sich beide Institute wesentlich dadurch, daß letztere als ein
Verein von Solosäugeru (20 an der Zahl), der Domchor als Chor im strengen
Sinne des Wortes zu deuten ist. Von diesem Grunduurerschicde hängen die
übrigen ab. Wenn die Mitglieder der Sixtinischen Kapelle, einzeln genommen, an
'"ttallhaltiger Schönheit der Stimmen denen des Domchors überlegen sind, so
behauptet letzterer durch Massenwirkung, vor allem aber durch die Strenge und
Sauberkeit der Ausführung den Vorrang. Die Präcision der Einsätze, die Rein¬
heit der Intonation und die Gleichmäßigkeit der Nuanciruug ist fast vollendet zu
nennen. In letzterer Beziehung ist freilich Gefahr, daß der Domchor in die
virtuosenhaste Sucht der jetzigen Zeit, unmotivirte grelle Gegensätze dem ma߬
vollen, einfachen Vortrag vorzuziehen, hineingerissen werde. Die kirchliche Musik
l"it nicht monoton werden, aber sie darf sich eben so wenig in leidenschaftlichen
Gegensätzen behagen. Wenn nach dieser Seite hin der Domchor den schädlichen
Einflüssen der Masse ausgesetzt ist, so kaun er nach einer andern Seite hin ganz
ohne seine Schuld verderblich wirken, und zwar durch das, was sein größter
Vorzug ist, durch die Schönheit der menschlichen Stimme als solcher. Es bestä¬
tigt sich in der Erfahrung, daß die Leistungen des Domchvrs popnlairer sind,


bindungen in den Besitz des vielfach zerstreuten und verborgenen Materials bringe.
Die Schatze mehrerer in das kirchliche Leben versenkter Jahrhunderte sind mit
dem kirchlichen Sinn selbst in Vergessenheit gerathen, und eS sind uicht immer
gerade die eigenthümlichste,; und interessantesten Werke, die durch den Druck all¬
gemeiner zugänglich geworden sind. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß eS dem
Domchor, wenn er dieser Idee nachstrebt, gelinge» wird, sich dauernd mit Con¬
certen dieser Art zu befestigen, die theils in dem historischen Interesse für Musik,
theils in der Idealität der menschlichen Stimme einen sichern Boden haben; aber
er muß dahin streben, ein Princip mit Entschiedenheit zu vertreten; das bunte
Allerlei steigt und fällt mit der Mode. , In den Concerten dieses Winters —
es waren drei, an der Zahl — kommen Sachen von Palestrina, Durante, Lotti,
Cvrsi, Seb. Bach, Haydn, Mendelssohn,,-Mozart, Orlando, Lasso u. A. zur
Aufführung. Den meisten Beifall schien eine Motette von Bach („ich lasse dich
nicht"; wahrscheinlich ist nicht Sebastian, sondern ein Sohn desselben, der Bücke-
burger Bach, Verfasser derselben), ein Misericordias von Dnrante und das acht¬
stimmige Crucifixus vou Lotti zu finden. Die Palcstrinaschen Chöre, die in
ihrer Haltung etwas Metaphysisches haben, sind der Mehrzahl bis jetzt unzugänglich.
Neuere Compositionen von Mendelssohn u. tgi. konnten ebenfalls sich nicht neben
classischen Werken des vorigen Jahrhunderts behaupten. ES behaup¬
teten also diejenigen Werke, und zwar mit vollem Recht, den Vorrang, die etwa
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhundert angehören. — In der Ausführung
dieser chorischen Compositionen leistet der Domchor Ausgezeichnetes. Nach den
Mittheilungen derer, die deu Domchor sowol als die Sixtinische Capelle ken¬
nen/ unterscheiden sich beide Institute wesentlich dadurch, daß letztere als ein
Verein von Solosäugeru (20 an der Zahl), der Domchor als Chor im strengen
Sinne des Wortes zu deuten ist. Von diesem Grunduurerschicde hängen die
übrigen ab. Wenn die Mitglieder der Sixtinischen Kapelle, einzeln genommen, an
'»ttallhaltiger Schönheit der Stimmen denen des Domchors überlegen sind, so
behauptet letzterer durch Massenwirkung, vor allem aber durch die Strenge und
Sauberkeit der Ausführung den Vorrang. Die Präcision der Einsätze, die Rein¬
heit der Intonation und die Gleichmäßigkeit der Nuanciruug ist fast vollendet zu
nennen. In letzterer Beziehung ist freilich Gefahr, daß der Domchor in die
virtuosenhaste Sucht der jetzigen Zeit, unmotivirte grelle Gegensätze dem ma߬
vollen, einfachen Vortrag vorzuziehen, hineingerissen werde. Die kirchliche Musik
l"it nicht monoton werden, aber sie darf sich eben so wenig in leidenschaftlichen
Gegensätzen behagen. Wenn nach dieser Seite hin der Domchor den schädlichen
Einflüssen der Masse ausgesetzt ist, so kaun er nach einer andern Seite hin ganz
ohne seine Schuld verderblich wirken, und zwar durch das, was sein größter
Vorzug ist, durch die Schönheit der menschlichen Stimme als solcher. Es bestä¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/323>, abgerufen am 22.12.2024.