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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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lich dazu bei, in diese bunte Heerschaar eine gewisse Ordnung und Disciplin zu
bringen. Durch Schiller's Tod ist Goethe sehr vereinsamt, und wenn eines seine
dichterische Kraft nicht erlosch, so hatte er doch nicht mehr jenen frischen Muth, sich
an die Spitze der geistigen Bewegung stellen. Er ist seit der Zeit mehr be¬
stimmt worden, als daß er bestimmt hätte.

Wenn wir aber den Gegensatz zwischen jenen beiden Perioden, in der Dich¬
tung wie im Leben, schärfer charatteristren wolle", so müssen wir ihn ans seinen
philosophischen Ausdruck zurückführen, den wir hier natürlich nicht in seiner
metaphysischen Bedeutung und Entwickelung verfolgen wollen, sondern nur als
einen correctern Ausdruck für die dunkeln Regungen des Geistes im Allgemeinen
anwenden. Diejenige Philosophie, welche bis zu dem geschilderten Wendepunkt
in Deutschland herrschte, und die sich'uoch in Fichre's Schriften ans'den Jahren
-1803 und -I80S ("die Bestimmung des Menschen" und "das Wesen des Gelehr¬
ten") auf eine glänzende Weise aussprach, der transscendentale Idealis¬
mus, fällt ungefähr mit dem zusammen, was man in der Poesie Sentimentalität
nennt, wenn man diesen Ausdruck nämlich so erweitert, wie es Schiller in seiner
Abhandlung über das Naive und Sentimentale gethan hat. Schiller war in,
jener Abhandlung in soweit im Irrthum, als er der ganzen modernen Poesie einen
Charakter beilegen wollte, der eigentlich nur seiner eigenen Periode. zukam.
Das philosophische System, welches sich seit der Zeit geltend gemacht hat, und
welches man unter dem Namen der Jdentitütsphilosophie begreift, fand
seinen ersten bedeutenden Ausdruck in Hegel's Phänomenologie, die ein Jahr
nach der Schlacht bei Jena erschien. Der Gegensatz dieser beiden Systeme
bezieht sich keineswegs ausschließlich ans die Metaphysik, er läßt sich in allen Rich¬
tungen der Kunst, der Poesie, der Wissenschaft, der Politik, ja selbst des socialen
Lebens verfolgen und ist der eigentliche Schlüssel für das Räthsel der unser Leben
bewegenden Gegensätze.

Das Wesen der ältern sentimentalen Philosophie und Poesie, die in Deutsch¬
land mit dem Augenblick beginnt, wo Deutschland überhaupt anfing, selbstständig
zu denken und zu empfinde", also mit Klopstock, Lessing, Kant, Goethe n. s. w.,
war die Voraussetzung, daß das Ideal der Wirklichkeit in ewiger Trennung
gegenüberstehe; das Wesen der neuern Philosophie und Poesie dagegen ist die
Annahme, daß das Eine mit dem Andern zusammenfallen muß, und der Versuch,
dieses Zusammenfallen künstlerisch oder dialektisch zu vermitteln. In unseren Tagen
wird die Bildung, gleichviel ob sie durch ein bestimmtes Bewußtsein vermittelt ist
oder uicht, wol schon so allgemein verbreitet sein, daß man die letztere Richtung
der Philosophie als die richtige begreift. Man wird einsehen, daß die Kunst nur
die Aufgabe haben kann, das wirkliche Leben zu idealistren, nicht ihm ein ficti-
ves Leben gegenüberzustellen, und daß die Philosophie wie die gesammte Wissen--
schaft die Aufgabe hat, die Welt verstehen zu lernen, nicht aber, ihr und dem


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lich dazu bei, in diese bunte Heerschaar eine gewisse Ordnung und Disciplin zu
bringen. Durch Schiller's Tod ist Goethe sehr vereinsamt, und wenn eines seine
dichterische Kraft nicht erlosch, so hatte er doch nicht mehr jenen frischen Muth, sich
an die Spitze der geistigen Bewegung stellen. Er ist seit der Zeit mehr be¬
stimmt worden, als daß er bestimmt hätte.

Wenn wir aber den Gegensatz zwischen jenen beiden Perioden, in der Dich¬
tung wie im Leben, schärfer charatteristren wolle», so müssen wir ihn ans seinen
philosophischen Ausdruck zurückführen, den wir hier natürlich nicht in seiner
metaphysischen Bedeutung und Entwickelung verfolgen wollen, sondern nur als
einen correctern Ausdruck für die dunkeln Regungen des Geistes im Allgemeinen
anwenden. Diejenige Philosophie, welche bis zu dem geschilderten Wendepunkt
in Deutschland herrschte, und die sich'uoch in Fichre's Schriften ans'den Jahren
-1803 und -I80S („die Bestimmung des Menschen" und „das Wesen des Gelehr¬
ten") auf eine glänzende Weise aussprach, der transscendentale Idealis¬
mus, fällt ungefähr mit dem zusammen, was man in der Poesie Sentimentalität
nennt, wenn man diesen Ausdruck nämlich so erweitert, wie es Schiller in seiner
Abhandlung über das Naive und Sentimentale gethan hat. Schiller war in,
jener Abhandlung in soweit im Irrthum, als er der ganzen modernen Poesie einen
Charakter beilegen wollte, der eigentlich nur seiner eigenen Periode. zukam.
Das philosophische System, welches sich seit der Zeit geltend gemacht hat, und
welches man unter dem Namen der Jdentitütsphilosophie begreift, fand
seinen ersten bedeutenden Ausdruck in Hegel's Phänomenologie, die ein Jahr
nach der Schlacht bei Jena erschien. Der Gegensatz dieser beiden Systeme
bezieht sich keineswegs ausschließlich ans die Metaphysik, er läßt sich in allen Rich¬
tungen der Kunst, der Poesie, der Wissenschaft, der Politik, ja selbst des socialen
Lebens verfolgen und ist der eigentliche Schlüssel für das Räthsel der unser Leben
bewegenden Gegensätze.

Das Wesen der ältern sentimentalen Philosophie und Poesie, die in Deutsch¬
land mit dem Augenblick beginnt, wo Deutschland überhaupt anfing, selbstständig
zu denken und zu empfinde», also mit Klopstock, Lessing, Kant, Goethe n. s. w.,
war die Voraussetzung, daß das Ideal der Wirklichkeit in ewiger Trennung
gegenüberstehe; das Wesen der neuern Philosophie und Poesie dagegen ist die
Annahme, daß das Eine mit dem Andern zusammenfallen muß, und der Versuch,
dieses Zusammenfallen künstlerisch oder dialektisch zu vermitteln. In unseren Tagen
wird die Bildung, gleichviel ob sie durch ein bestimmtes Bewußtsein vermittelt ist
oder uicht, wol schon so allgemein verbreitet sein, daß man die letztere Richtung
der Philosophie als die richtige begreift. Man wird einsehen, daß die Kunst nur
die Aufgabe haben kann, das wirkliche Leben zu idealistren, nicht ihm ein ficti-
ves Leben gegenüberzustellen, und daß die Philosophie wie die gesammte Wissen--
schaft die Aufgabe hat, die Welt verstehen zu lernen, nicht aber, ihr und dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/255>, abgerufen am 22.12.2024.