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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Uebertreibung sagen, daß sich kein einziger Satz darin findet, in dem nicht das
Subject gegen das Prädicat in einem leidenschaftlichen Kampf begriffen wäre,
während beide sich gleichmäßig gegen die Copula empören und von den Appo-
sitionen einen hinterlistigen Ueberfall erleiden. Prophezeiungen, Beweisführungen,
lebhaftes Gezänk mit einem eingebildeten Gegner,.Anekdoten, poetische Einfälle,
Humor, Witz, dies alles mischt sich ans eine höchst unbegreifliche Weise durchein¬
ander. Ein Satz stößt den andern vor den Kopf, und die Capitel taumeln wie
Betrunkene in dem Labyrinth dieser Gedankenwelt umher, in welchem es keinen
Ariadnefaden giebt, weil in der Construction kein Plan ist. Man wird verwirrt,
betäubt, halb toll bei dieser Lecture, und doch begegnet man dabei so viel Ver¬
stand und richtiges Gefühl, daß es einem vorkommt, man habe es mit einem
Mann vou dem klarsten Verstand und der höchsten.Bildung zu thun, der aber
für den Augenblick vollständig die Besinnung verloren habe. Seine wahren und
zum Theil tiefen Gedanken erscheinen wie die Reminiscenzen eines frühern gesun¬
den Daseins. Selbst in Deutschland finden wir nur sehr Weniges, was sich in der
Verwirrung mit dieser seltsamen Schrift messen könnte; nur Hamann's Werke,
einzelne Excurse von Jean Paul und etwa der zweite Theil des Faust. Aber
selbst Hamann erregt doch in der Regel wenigstens in sofern ein Gefühl der Be¬
friedigung, als man gar nicht den Versuch macht, zu einem wirklichen Verständ¬
niß zu kommen, und sich mit einer gewissen Gelassenheit an diesem halb inferna¬
lischen, halb heiligen Trank berauscht, welcher der Erde entrückt, während wir bei
Carlyle das Gefühl haben, wir sind wirklich aus der Erde, wir haben es mit
einem Mann zu thun, der unsre Sprache versteht, der das Beste zu wollen
scheint, und der sich die unendlichste Mühe giebt, uns deutlich zu werden; und
doch haben wir absolut keine Ahnung davon, was er eigentlich will. Das ist
wenigstens für uns eine sehr peinigende Empfindung, die durch einzelne Lichtblitze
des Genius nicht aufgehoben wird; denn was helfen uns einzelne geistreiche
Aussprüche, wenn wir nicht'wissen, wie der Verfasser dazu gekommen ist.

Genau in dieselbe Kategorie fallen die I^lehr-ä^-pamMots (Weissagungen
vom jüngsten Gericht oder irgend etwas Anderes), die unter dem Eindruck der
gewaltsamen Erschütterungen des Jahres 18i8 geschrieben sind. Ebenso wie in
allen früheren Werken werden der Reihe nach sämmtliche Krebsschäden der moder¬
nen Gesellschaft besprochen, oder vielmehr es wird' darüber gesprochen, mit großem
Haß gegen die Hohlheit und Lügenhaftigkeit der Phrase und mit warmer Liebe
für das Ideale und Gute; aber was durch dieses Sprechen bewiesen und bewirkt
werden soll, das hat noch kein Engländer errathen. Uebrigens war in dieser Zeit
schon eine ganze Schule von Anhängern und Nachfolgern Carlyle's aufgetreten,
die in einer ähnlichen Sprache redeten und eine ähnliche Methode verfolgten.
Wir haben bereits mehrere derselben besprochen und werden noch Gelegenheit
haben, darauf zurückzukommen. Bei ihnen spricht sich ebenso wie bei Carlyle


Uebertreibung sagen, daß sich kein einziger Satz darin findet, in dem nicht das
Subject gegen das Prädicat in einem leidenschaftlichen Kampf begriffen wäre,
während beide sich gleichmäßig gegen die Copula empören und von den Appo-
sitionen einen hinterlistigen Ueberfall erleiden. Prophezeiungen, Beweisführungen,
lebhaftes Gezänk mit einem eingebildeten Gegner,.Anekdoten, poetische Einfälle,
Humor, Witz, dies alles mischt sich ans eine höchst unbegreifliche Weise durchein¬
ander. Ein Satz stößt den andern vor den Kopf, und die Capitel taumeln wie
Betrunkene in dem Labyrinth dieser Gedankenwelt umher, in welchem es keinen
Ariadnefaden giebt, weil in der Construction kein Plan ist. Man wird verwirrt,
betäubt, halb toll bei dieser Lecture, und doch begegnet man dabei so viel Ver¬
stand und richtiges Gefühl, daß es einem vorkommt, man habe es mit einem
Mann vou dem klarsten Verstand und der höchsten.Bildung zu thun, der aber
für den Augenblick vollständig die Besinnung verloren habe. Seine wahren und
zum Theil tiefen Gedanken erscheinen wie die Reminiscenzen eines frühern gesun¬
den Daseins. Selbst in Deutschland finden wir nur sehr Weniges, was sich in der
Verwirrung mit dieser seltsamen Schrift messen könnte; nur Hamann's Werke,
einzelne Excurse von Jean Paul und etwa der zweite Theil des Faust. Aber
selbst Hamann erregt doch in der Regel wenigstens in sofern ein Gefühl der Be¬
friedigung, als man gar nicht den Versuch macht, zu einem wirklichen Verständ¬
niß zu kommen, und sich mit einer gewissen Gelassenheit an diesem halb inferna¬
lischen, halb heiligen Trank berauscht, welcher der Erde entrückt, während wir bei
Carlyle das Gefühl haben, wir sind wirklich aus der Erde, wir haben es mit
einem Mann zu thun, der unsre Sprache versteht, der das Beste zu wollen
scheint, und der sich die unendlichste Mühe giebt, uns deutlich zu werden; und
doch haben wir absolut keine Ahnung davon, was er eigentlich will. Das ist
wenigstens für uns eine sehr peinigende Empfindung, die durch einzelne Lichtblitze
des Genius nicht aufgehoben wird; denn was helfen uns einzelne geistreiche
Aussprüche, wenn wir nicht'wissen, wie der Verfasser dazu gekommen ist.

Genau in dieselbe Kategorie fallen die I^lehr-ä^-pamMots (Weissagungen
vom jüngsten Gericht oder irgend etwas Anderes), die unter dem Eindruck der
gewaltsamen Erschütterungen des Jahres 18i8 geschrieben sind. Ebenso wie in
allen früheren Werken werden der Reihe nach sämmtliche Krebsschäden der moder¬
nen Gesellschaft besprochen, oder vielmehr es wird' darüber gesprochen, mit großem
Haß gegen die Hohlheit und Lügenhaftigkeit der Phrase und mit warmer Liebe
für das Ideale und Gute; aber was durch dieses Sprechen bewiesen und bewirkt
werden soll, das hat noch kein Engländer errathen. Uebrigens war in dieser Zeit
schon eine ganze Schule von Anhängern und Nachfolgern Carlyle's aufgetreten,
die in einer ähnlichen Sprache redeten und eine ähnliche Methode verfolgten.
Wir haben bereits mehrere derselben besprochen und werden noch Gelegenheit
haben, darauf zurückzukommen. Bei ihnen spricht sich ebenso wie bei Carlyle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/238>, abgerufen am 22.12.2024.