Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

weit zurückgestürzt haben, würde bei diesem Landvolke vielleicht recht lehrreiche
Anschauungen über parlamentarischen Takt zu sammeln vermögen, wenngleich die
Mitglieder dieser Versammlung weder im schwarzen Fracke vor wappengeschmücktem
Tische sitzen, noch die "Würde der hohen Versammlung" bis zur Ermüdung im
Munde führen. --

Nun begannen die Beamtenwahlen. Zuerst die des regierenden Landam-
manns. Niemand war an die Stelle des mit der Bitte, man möge ihn nicht
wieder erkühren, voy seinem Tribunenplatze abtretenden Herrn Fäßler vorgeschla¬
gen; und auf die deshalb vom Landschreiber' an das Volk gestellte Frage, noch
ehe die Umfrage recht begonnen, flogen unter allgemeinem "Hui" alle Männer¬
hände hoch über die Köpfe empor, während der tausendstimmige Ruf "Mehrer,
Mehrer!" erscholl. Das hieß: ein Jahr mehr soll er als Landammann regieren.
Er erschien auch sofort von Neuem an seinem Platze, dankte für das Vertrauen
und ging zur Neuwahl des Landwaibcls über. Elf Kompetenten waren vom
Großen Rath zur öffentlichen Bewerbung um das einträgliche Amt zugelassen
worden, von denen jedoch i weder lesen noch schreiben konnten, was bei den
Einzelnen im Auftrage des Großen Rathes stets vor dem Beginn ihrer Rede
dem Volke angezeigt ward.

Fast alle motivirtert ihr Gesuch mit eigener körperlicher Schwäche, welche
keinen Erwerb durch strenge Handarbeit zulasse. Versicherungen der äußersten
Armuth, Angaben von zahlreichen Familien und Familiensorgen, unerzogene und
sogar ungezogene Kinder, Blindheit der Ehefrauen, welche diese am Sticken hin¬
dern, die schwierige Ernährung hochbetagter Aeltern, von denen man schließlich
erfuhr, daß Gott durch den vor einem Jahr erfolgten Tod des Vaters dem Sohne
"einen Theil der schweren Last erleichtert" habe -- dies Alles führten die Be¬
werber vor den Augen des versammelten Volkes in äußerst naturtreneu Bildern
vorüber. Jeder versprach natürlich die beste Verrichtung seines Dienstes und
dazu fügten sie: "darum bitte ich Und, getrüe, liebe Landlüt, habet Üre mild-
thätige Hand uf, und gäbet um tusendhuudert Gottes Wille eine arme Familen-
vatcr die Stelle, und errattet ihn und syne Familie us großer Noth!" Andere
durchflochten ihre Bewerbungen auch wol mit allerlei Bibelsprüchen, noch Andere
brachen kurz "ut der Bemerkung ab: was Gott nicht will, kann ich auch nicht'
machen. Also ihre Sache auf den Himmel stellend, und recht eigentlich in die
Hände des Volks legend, stieg jeder wieder von der Tribüne, dem Nachredner
das Lcichenbittermäutelchen umhängend, ohne welches nun einmal Niemand das
Wort ergreifen zu dürfen scheint.

Jeder Einzelne hatte wol seine größere oder kleinere Partei in der Menge;
im Allgemeinen kennt aber auch bei etwa 16,000 Einwohnern eines Staates
Jeder des Andern Leben und Lebensverhältnisse, wenn gleich die Gemeinde weit
verstreut, die Familien vereinsamt wohnen. Da gingen nun herbe und gute


weit zurückgestürzt haben, würde bei diesem Landvolke vielleicht recht lehrreiche
Anschauungen über parlamentarischen Takt zu sammeln vermögen, wenngleich die
Mitglieder dieser Versammlung weder im schwarzen Fracke vor wappengeschmücktem
Tische sitzen, noch die „Würde der hohen Versammlung" bis zur Ermüdung im
Munde führen. —

Nun begannen die Beamtenwahlen. Zuerst die des regierenden Landam-
manns. Niemand war an die Stelle des mit der Bitte, man möge ihn nicht
wieder erkühren, voy seinem Tribunenplatze abtretenden Herrn Fäßler vorgeschla¬
gen; und auf die deshalb vom Landschreiber' an das Volk gestellte Frage, noch
ehe die Umfrage recht begonnen, flogen unter allgemeinem „Hui" alle Männer¬
hände hoch über die Köpfe empor, während der tausendstimmige Ruf „Mehrer,
Mehrer!" erscholl. Das hieß: ein Jahr mehr soll er als Landammann regieren.
Er erschien auch sofort von Neuem an seinem Platze, dankte für das Vertrauen
und ging zur Neuwahl des Landwaibcls über. Elf Kompetenten waren vom
Großen Rath zur öffentlichen Bewerbung um das einträgliche Amt zugelassen
worden, von denen jedoch i weder lesen noch schreiben konnten, was bei den
Einzelnen im Auftrage des Großen Rathes stets vor dem Beginn ihrer Rede
dem Volke angezeigt ward.

Fast alle motivirtert ihr Gesuch mit eigener körperlicher Schwäche, welche
keinen Erwerb durch strenge Handarbeit zulasse. Versicherungen der äußersten
Armuth, Angaben von zahlreichen Familien und Familiensorgen, unerzogene und
sogar ungezogene Kinder, Blindheit der Ehefrauen, welche diese am Sticken hin¬
dern, die schwierige Ernährung hochbetagter Aeltern, von denen man schließlich
erfuhr, daß Gott durch den vor einem Jahr erfolgten Tod des Vaters dem Sohne
„einen Theil der schweren Last erleichtert" habe — dies Alles führten die Be¬
werber vor den Augen des versammelten Volkes in äußerst naturtreneu Bildern
vorüber. Jeder versprach natürlich die beste Verrichtung seines Dienstes und
dazu fügten sie: „darum bitte ich Und, getrüe, liebe Landlüt, habet Üre mild-
thätige Hand uf, und gäbet um tusendhuudert Gottes Wille eine arme Familen-
vatcr die Stelle, und errattet ihn und syne Familie us großer Noth!" Andere
durchflochten ihre Bewerbungen auch wol mit allerlei Bibelsprüchen, noch Andere
brachen kurz „ut der Bemerkung ab: was Gott nicht will, kann ich auch nicht'
machen. Also ihre Sache auf den Himmel stellend, und recht eigentlich in die
Hände des Volks legend, stieg jeder wieder von der Tribüne, dem Nachredner
das Lcichenbittermäutelchen umhängend, ohne welches nun einmal Niemand das
Wort ergreifen zu dürfen scheint.

Jeder Einzelne hatte wol seine größere oder kleinere Partei in der Menge;
im Allgemeinen kennt aber auch bei etwa 16,000 Einwohnern eines Staates
Jeder des Andern Leben und Lebensverhältnisse, wenn gleich die Gemeinde weit
verstreut, die Familien vereinsamt wohnen. Da gingen nun herbe und gute


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0153" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94594"/>
            <p xml:id="ID_404" prev="#ID_403"> weit zurückgestürzt haben, würde bei diesem Landvolke vielleicht recht lehrreiche<lb/>
Anschauungen über parlamentarischen Takt zu sammeln vermögen, wenngleich die<lb/>
Mitglieder dieser Versammlung weder im schwarzen Fracke vor wappengeschmücktem<lb/>
Tische sitzen, noch die &#x201E;Würde der hohen Versammlung" bis zur Ermüdung im<lb/>
Munde führen. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_405"> Nun begannen die Beamtenwahlen. Zuerst die des regierenden Landam-<lb/>
manns. Niemand war an die Stelle des mit der Bitte, man möge ihn nicht<lb/>
wieder erkühren, voy seinem Tribunenplatze abtretenden Herrn Fäßler vorgeschla¬<lb/>
gen; und auf die deshalb vom Landschreiber' an das Volk gestellte Frage, noch<lb/>
ehe die Umfrage recht begonnen, flogen unter allgemeinem &#x201E;Hui" alle Männer¬<lb/>
hände hoch über die Köpfe empor, während der tausendstimmige Ruf &#x201E;Mehrer,<lb/>
Mehrer!" erscholl. Das hieß: ein Jahr mehr soll er als Landammann regieren.<lb/>
Er erschien auch sofort von Neuem an seinem Platze, dankte für das Vertrauen<lb/>
und ging zur Neuwahl des Landwaibcls über. Elf Kompetenten waren vom<lb/>
Großen Rath zur öffentlichen Bewerbung um das einträgliche Amt zugelassen<lb/>
worden, von denen jedoch i weder lesen noch schreiben konnten, was bei den<lb/>
Einzelnen im Auftrage des Großen Rathes stets vor dem Beginn ihrer Rede<lb/>
dem Volke angezeigt ward.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_406"> Fast alle motivirtert ihr Gesuch mit eigener körperlicher Schwäche, welche<lb/>
keinen Erwerb durch strenge Handarbeit zulasse. Versicherungen der äußersten<lb/>
Armuth, Angaben von zahlreichen Familien und Familiensorgen, unerzogene und<lb/>
sogar ungezogene Kinder, Blindheit der Ehefrauen, welche diese am Sticken hin¬<lb/>
dern, die schwierige Ernährung hochbetagter Aeltern, von denen man schließlich<lb/>
erfuhr, daß Gott durch den vor einem Jahr erfolgten Tod des Vaters dem Sohne<lb/>
&#x201E;einen Theil der schweren Last erleichtert" habe &#x2014; dies Alles führten die Be¬<lb/>
werber vor den Augen des versammelten Volkes in äußerst naturtreneu Bildern<lb/>
vorüber. Jeder versprach natürlich die beste Verrichtung seines Dienstes und<lb/>
dazu fügten sie: &#x201E;darum bitte ich Und, getrüe, liebe Landlüt, habet Üre mild-<lb/>
thätige Hand uf, und gäbet um tusendhuudert Gottes Wille eine arme Familen-<lb/>
vatcr die Stelle, und errattet ihn und syne Familie us großer Noth!" Andere<lb/>
durchflochten ihre Bewerbungen auch wol mit allerlei Bibelsprüchen, noch Andere<lb/>
brachen kurz &#x201E;ut der Bemerkung ab: was Gott nicht will, kann ich auch nicht'<lb/>
machen. Also ihre Sache auf den Himmel stellend, und recht eigentlich in die<lb/>
Hände des Volks legend, stieg jeder wieder von der Tribüne, dem Nachredner<lb/>
das Lcichenbittermäutelchen umhängend, ohne welches nun einmal Niemand das<lb/>
Wort ergreifen zu dürfen scheint.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_407" next="#ID_408"> Jeder Einzelne hatte wol seine größere oder kleinere Partei in der Menge;<lb/>
im Allgemeinen kennt aber auch bei etwa 16,000 Einwohnern eines Staates<lb/>
Jeder des Andern Leben und Lebensverhältnisse, wenn gleich die Gemeinde weit<lb/>
verstreut, die Familien vereinsamt wohnen.  Da gingen nun herbe und gute</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0153] weit zurückgestürzt haben, würde bei diesem Landvolke vielleicht recht lehrreiche Anschauungen über parlamentarischen Takt zu sammeln vermögen, wenngleich die Mitglieder dieser Versammlung weder im schwarzen Fracke vor wappengeschmücktem Tische sitzen, noch die „Würde der hohen Versammlung" bis zur Ermüdung im Munde führen. — Nun begannen die Beamtenwahlen. Zuerst die des regierenden Landam- manns. Niemand war an die Stelle des mit der Bitte, man möge ihn nicht wieder erkühren, voy seinem Tribunenplatze abtretenden Herrn Fäßler vorgeschla¬ gen; und auf die deshalb vom Landschreiber' an das Volk gestellte Frage, noch ehe die Umfrage recht begonnen, flogen unter allgemeinem „Hui" alle Männer¬ hände hoch über die Köpfe empor, während der tausendstimmige Ruf „Mehrer, Mehrer!" erscholl. Das hieß: ein Jahr mehr soll er als Landammann regieren. Er erschien auch sofort von Neuem an seinem Platze, dankte für das Vertrauen und ging zur Neuwahl des Landwaibcls über. Elf Kompetenten waren vom Großen Rath zur öffentlichen Bewerbung um das einträgliche Amt zugelassen worden, von denen jedoch i weder lesen noch schreiben konnten, was bei den Einzelnen im Auftrage des Großen Rathes stets vor dem Beginn ihrer Rede dem Volke angezeigt ward. Fast alle motivirtert ihr Gesuch mit eigener körperlicher Schwäche, welche keinen Erwerb durch strenge Handarbeit zulasse. Versicherungen der äußersten Armuth, Angaben von zahlreichen Familien und Familiensorgen, unerzogene und sogar ungezogene Kinder, Blindheit der Ehefrauen, welche diese am Sticken hin¬ dern, die schwierige Ernährung hochbetagter Aeltern, von denen man schließlich erfuhr, daß Gott durch den vor einem Jahr erfolgten Tod des Vaters dem Sohne „einen Theil der schweren Last erleichtert" habe — dies Alles führten die Be¬ werber vor den Augen des versammelten Volkes in äußerst naturtreneu Bildern vorüber. Jeder versprach natürlich die beste Verrichtung seines Dienstes und dazu fügten sie: „darum bitte ich Und, getrüe, liebe Landlüt, habet Üre mild- thätige Hand uf, und gäbet um tusendhuudert Gottes Wille eine arme Familen- vatcr die Stelle, und errattet ihn und syne Familie us großer Noth!" Andere durchflochten ihre Bewerbungen auch wol mit allerlei Bibelsprüchen, noch Andere brachen kurz „ut der Bemerkung ab: was Gott nicht will, kann ich auch nicht' machen. Also ihre Sache auf den Himmel stellend, und recht eigentlich in die Hände des Volks legend, stieg jeder wieder von der Tribüne, dem Nachredner das Lcichenbittermäutelchen umhängend, ohne welches nun einmal Niemand das Wort ergreifen zu dürfen scheint. Jeder Einzelne hatte wol seine größere oder kleinere Partei in der Menge; im Allgemeinen kennt aber auch bei etwa 16,000 Einwohnern eines Staates Jeder des Andern Leben und Lebensverhältnisse, wenn gleich die Gemeinde weit verstreut, die Familien vereinsamt wohnen. Da gingen nun herbe und gute

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/153
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/153>, abgerufen am 22.12.2024.