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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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überfüllt, ans den Dachluken schauen noch Gesichter und ans dem Dache sitzen
schwindelfreie Menschen. -- -- Der Marsch verklingt, ein Trommelwirbel folgt,
und auf der Tribune zwischen dem Landschreiber und Landwaibel erscheint der
Landammann. So wie er den Hut von dem ergrauten Haupte nimmt, fliegen
gleichzeitig alle Kopfbedeckungen der Menschenmenge herunter und tiefe Ehrfurchts-
stille senkt sich gleichzeitig ans die Versammlung, so daß keine Sylbe der kurzen
Eröffnungsrede verloren geht. Dieselbe begrüßt staubig, doch ohne allen unnöthi-
ger Pathos, den zahlreichen Besuch der heutigen Versammlung als gutes Zeichen
regsamer Theilnahme der Jnncrrhodcner an den Angelegenheiten des Landes."
Hierauf bezeichnet sie die besonderen Aufgaben der diesmaligen Landsgemeinde.
Außer dem alljährlichen Vortrag über die Laudesrechnüug und den Wahlen eines
Landammanns, Landschreibers und Landwaibels habe der Große Rath uoch die
Frage an das Volk gestellt-, ob eine Revision der in verschiedenen Bestimmungen
mit der neuen Bundesverfassung nicht mehr harmonirenden Cantonalverfassung
stattfinden solle, ob nicht. Der Große Rath habe die einzelnen Differenzpunkte
nicht bezeichnet, sie seien ohnehin bekannt genug und würden sich erst noch näher
herausstellen, wenn ein Beschluß des Volkes vorläge. Mit einer Mahnung zur
Abstimmung nach bester Ueberzeugung ohne Sonderinteressen und Parteiensncht
schlössen die wahrhaft patriarchalischen Worte. Sofort begann der Landschreiber
"dem hochgeachteten, hochwohlgeborenen Herrn Landammann, den hochgeachteten,
hochgeehrten Herren (Hauptleuten), den vertrauten, getreuen, lieben Landleuten
und den in unserer Mitte niedergelassenen Schweizerbürgern" die am 22. April
dem Großen Rathe von den "rodelführenden Herren" vorgelegten Staatsrechnun¬
gen zu verlesen. Man wird hier schwerlich die Wiedergabe einzelner Zahlen und
und Posten erwarten; das Resultat des Ganzen war ein Einnahmcüberschuß von
einigen hundert Gulden, worauf die "hochgeachteten Herren Hauptleute" die Rich¬
tigkeit der Rechnungen "auch heute wieder bestens verdankten" und dem Landvolke
die "rodelführenden" Herren bestens empfahlen. Hatte der Landammann seine
.Einsührungsworte in bestem Deutsch gesprochen und war auch dem Landschreiber
selten ein schweizerischer Accent oder ein spezifisch appenzeller Wort entschlüpft, so
konnten sich dessen die Herren Hauptleute nicht mit gleichem Rechte rühmen.
Trotzdem hörte man jedem die Gewohnheit öffentlichen Sprechens an; keiner
stockte oder stotterte, keiner suchte etwa nach absonderlichen Wendungen, jeder
aber bezeichnete auch mit klarer Bestimmtheit den Gedanken, welchen er just aus¬
sprechen wollte. Und mit gleicher Aufmerksamkeit, mit gleicher Achtung wurde
jeder Einzelne gehört, obgleich manche leisgeflüsterte Bemerkung bei den Worten
des Einen oder Andern sehr verschiedene Stimmungen und Gesinnungen in den
Mösen der Landleute kundgab. Manche Kammer, namentlich manche heutige
Majorität in Deutschland, welche so vollkommen verstummt war, als es gegolten
hätte, jene Ucberstnrzungen zu verhindern, die uns nun in ihrem Rückschläge so


überfüllt, ans den Dachluken schauen noch Gesichter und ans dem Dache sitzen
schwindelfreie Menschen. — — Der Marsch verklingt, ein Trommelwirbel folgt,
und auf der Tribune zwischen dem Landschreiber und Landwaibel erscheint der
Landammann. So wie er den Hut von dem ergrauten Haupte nimmt, fliegen
gleichzeitig alle Kopfbedeckungen der Menschenmenge herunter und tiefe Ehrfurchts-
stille senkt sich gleichzeitig ans die Versammlung, so daß keine Sylbe der kurzen
Eröffnungsrede verloren geht. Dieselbe begrüßt staubig, doch ohne allen unnöthi-
ger Pathos, den zahlreichen Besuch der heutigen Versammlung als gutes Zeichen
regsamer Theilnahme der Jnncrrhodcner an den Angelegenheiten des Landes.»
Hierauf bezeichnet sie die besonderen Aufgaben der diesmaligen Landsgemeinde.
Außer dem alljährlichen Vortrag über die Laudesrechnüug und den Wahlen eines
Landammanns, Landschreibers und Landwaibels habe der Große Rath uoch die
Frage an das Volk gestellt-, ob eine Revision der in verschiedenen Bestimmungen
mit der neuen Bundesverfassung nicht mehr harmonirenden Cantonalverfassung
stattfinden solle, ob nicht. Der Große Rath habe die einzelnen Differenzpunkte
nicht bezeichnet, sie seien ohnehin bekannt genug und würden sich erst noch näher
herausstellen, wenn ein Beschluß des Volkes vorläge. Mit einer Mahnung zur
Abstimmung nach bester Ueberzeugung ohne Sonderinteressen und Parteiensncht
schlössen die wahrhaft patriarchalischen Worte. Sofort begann der Landschreiber
„dem hochgeachteten, hochwohlgeborenen Herrn Landammann, den hochgeachteten,
hochgeehrten Herren (Hauptleuten), den vertrauten, getreuen, lieben Landleuten
und den in unserer Mitte niedergelassenen Schweizerbürgern" die am 22. April
dem Großen Rathe von den „rodelführenden Herren" vorgelegten Staatsrechnun¬
gen zu verlesen. Man wird hier schwerlich die Wiedergabe einzelner Zahlen und
und Posten erwarten; das Resultat des Ganzen war ein Einnahmcüberschuß von
einigen hundert Gulden, worauf die „hochgeachteten Herren Hauptleute" die Rich¬
tigkeit der Rechnungen „auch heute wieder bestens verdankten" und dem Landvolke
die „rodelführenden" Herren bestens empfahlen. Hatte der Landammann seine
.Einsührungsworte in bestem Deutsch gesprochen und war auch dem Landschreiber
selten ein schweizerischer Accent oder ein spezifisch appenzeller Wort entschlüpft, so
konnten sich dessen die Herren Hauptleute nicht mit gleichem Rechte rühmen.
Trotzdem hörte man jedem die Gewohnheit öffentlichen Sprechens an; keiner
stockte oder stotterte, keiner suchte etwa nach absonderlichen Wendungen, jeder
aber bezeichnete auch mit klarer Bestimmtheit den Gedanken, welchen er just aus¬
sprechen wollte. Und mit gleicher Aufmerksamkeit, mit gleicher Achtung wurde
jeder Einzelne gehört, obgleich manche leisgeflüsterte Bemerkung bei den Worten
des Einen oder Andern sehr verschiedene Stimmungen und Gesinnungen in den
Mösen der Landleute kundgab. Manche Kammer, namentlich manche heutige
Majorität in Deutschland, welche so vollkommen verstummt war, als es gegolten
hätte, jene Ucberstnrzungen zu verhindern, die uns nun in ihrem Rückschläge so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/152>, abgerufen am 22.12.2024.