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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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liegendes oder Unverträgliches verschmilzt und in seinem Geiste alte und vertraute
Phrasen und vrakelartige Voraussetzungen zurückläßt, von denen er sich niemals
Rechenschaft gegeben: es giebt keinen Menschen, der, wenn er zu'einer energischen
und fruchtbaren wissenschaftlichen Thätigkeit bestimmt ist, es nicht als einen noth¬
wendigen TM der Selbsterziehung empfunden hätte, diese alten Verwickelungen
seines Innern auseinanderzubrechen, zu entwirren, zu analystrcn und zu reconstruiren:
und der sich nicht genöthigt gefunden, dies durch seine eigene lahme und einsame
Anstrengung zu thun, seit der Niese des dialektischen Elenchus nicht ferner anf
dem Marktplatze steht, ihm Stachel und Hilfe zu leihen."

Man wird sich überrascht finden, nachdem Solons Maßnahmen dargelegt
werden, die zum Theil noch barbarischen Schuld- und Geldverhältnisse in Attika
zu ordnen, sich plötzlich in eine Geschichte der Ansichten über, Geldansleihnngen
ans Interessen geführt zu sehen: wie anf einer gewissen frühern Stufe der Mensch¬
lichen Gesellschaft -- den obwaltenden Umständen ganz gemäß -- jedes Ausleihen
von Geld auf Interessen verhaßt ist, und als Wucher betrachtet wird. Der
jüdische Gesetzgeber verbot es; der muhamedanische gleichfalls und die griechischen
Philosophen halten für ihre Staatsideale an dieser Ansicht sest. Hingegen der
industrielle Sinn der Nation brachte die Praxis seit Solon in ununterbrochene
-Aufnahme, und zwar ohne einen bestimmten Zinsfuß gesetzlich festzustellen
während wir schon in Rom z. B. die Tribunen wiederholt auf Feststellung
niedrigerer Zinsfuße dringen sehen; ja sogar einmal ein Vorschlag derselben für
Verbot aller Zinsen vorkommt. Das öffentliche Vertrauen und die Sicherheit
im Geldverkehr finden wir merkwürdig groß ,in Griechenland, auch von Seiten
des Staats: Nie seit Solon'hören wir von Herabsetzung des Münzfußes, was
man zu würdigen wissen wird, wenn man vergleicht, wie diese lockende Ma߬
regel in Rom sehr hänfig, und in den Staaten des modernen Europa bis noch
in sehr neue Zeiten gleichfalls sehr hänfig vorgekommen. --

Man vergesse nicht, daß hier nnr die dürftigste Skizze eines lebensvollen
Gemäldes mitgetheilt ist. --

So wäre denn der deutscheu Wissenschaft wieder einmal auf einem Felde, auf
welchem auch sie so vielfach beschäftigt gewesen, die schönste Frucht von einer
andern Nation hinweggenommen. Daß wir im Verhältniß zu den vielen Arbei¬
tenden es nicht weiter gebracht, das hat leider außer den angeführten Umständen
noch einen andern Grund, von welchem peinlich zu reden ist. Daß gewisse
Menschen vor andern mit einem schärferen Gefühl ausgerüstet sind, um zu unter¬
scheiden, wo der gesunde Menschenverstand aufhöre, und die Absurdität anfange,
ist eine bekannte Erscheinung. Beinahe aber scheint es, daß auch zwischen Völkern
ein derartiger Unterschied statthabe, und daß die Engländer uns'gegenüber anch
hierin sehr im Vortheil sind. Es ist sogar schon auffallend, wie des Engländers
scharfes mein-sölisö oft da erscheint, wo es für unsere Empfindung in einen übrigens


liegendes oder Unverträgliches verschmilzt und in seinem Geiste alte und vertraute
Phrasen und vrakelartige Voraussetzungen zurückläßt, von denen er sich niemals
Rechenschaft gegeben: es giebt keinen Menschen, der, wenn er zu'einer energischen
und fruchtbaren wissenschaftlichen Thätigkeit bestimmt ist, es nicht als einen noth¬
wendigen TM der Selbsterziehung empfunden hätte, diese alten Verwickelungen
seines Innern auseinanderzubrechen, zu entwirren, zu analystrcn und zu reconstruiren:
und der sich nicht genöthigt gefunden, dies durch seine eigene lahme und einsame
Anstrengung zu thun, seit der Niese des dialektischen Elenchus nicht ferner anf
dem Marktplatze steht, ihm Stachel und Hilfe zu leihen."

Man wird sich überrascht finden, nachdem Solons Maßnahmen dargelegt
werden, die zum Theil noch barbarischen Schuld- und Geldverhältnisse in Attika
zu ordnen, sich plötzlich in eine Geschichte der Ansichten über, Geldansleihnngen
ans Interessen geführt zu sehen: wie anf einer gewissen frühern Stufe der Mensch¬
lichen Gesellschaft — den obwaltenden Umständen ganz gemäß — jedes Ausleihen
von Geld auf Interessen verhaßt ist, und als Wucher betrachtet wird. Der
jüdische Gesetzgeber verbot es; der muhamedanische gleichfalls und die griechischen
Philosophen halten für ihre Staatsideale an dieser Ansicht sest. Hingegen der
industrielle Sinn der Nation brachte die Praxis seit Solon in ununterbrochene
-Aufnahme, und zwar ohne einen bestimmten Zinsfuß gesetzlich festzustellen
während wir schon in Rom z. B. die Tribunen wiederholt auf Feststellung
niedrigerer Zinsfuße dringen sehen; ja sogar einmal ein Vorschlag derselben für
Verbot aller Zinsen vorkommt. Das öffentliche Vertrauen und die Sicherheit
im Geldverkehr finden wir merkwürdig groß ,in Griechenland, auch von Seiten
des Staats: Nie seit Solon'hören wir von Herabsetzung des Münzfußes, was
man zu würdigen wissen wird, wenn man vergleicht, wie diese lockende Ma߬
regel in Rom sehr hänfig, und in den Staaten des modernen Europa bis noch
in sehr neue Zeiten gleichfalls sehr hänfig vorgekommen. —

Man vergesse nicht, daß hier nnr die dürftigste Skizze eines lebensvollen
Gemäldes mitgetheilt ist. —

So wäre denn der deutscheu Wissenschaft wieder einmal auf einem Felde, auf
welchem auch sie so vielfach beschäftigt gewesen, die schönste Frucht von einer
andern Nation hinweggenommen. Daß wir im Verhältniß zu den vielen Arbei¬
tenden es nicht weiter gebracht, das hat leider außer den angeführten Umständen
noch einen andern Grund, von welchem peinlich zu reden ist. Daß gewisse
Menschen vor andern mit einem schärferen Gefühl ausgerüstet sind, um zu unter¬
scheiden, wo der gesunde Menschenverstand aufhöre, und die Absurdität anfange,
ist eine bekannte Erscheinung. Beinahe aber scheint es, daß auch zwischen Völkern
ein derartiger Unterschied statthabe, und daß die Engländer uns'gegenüber anch
hierin sehr im Vortheil sind. Es ist sogar schon auffallend, wie des Engländers
scharfes mein-sölisö oft da erscheint, wo es für unsere Empfindung in einen übrigens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/147>, abgerufen am 22.12.2024.