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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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von der Konstitution wich, oder seine Achtung vor derselben verlor. Die Frage,
die ihm gestellt war: "ist Jemand da, der eurer Ansicht nach lebensgefährlich für
den Staat ist? und wenn, wer?" wiewol weit gefaßt, war doch direct und ge¬
setzlich vorgelegt. Wäre kein Ostracismus gewesen, so würde sie wahrscheinlich
indirect und ungesetzlich aufgestellt worden sein, bei Gelegenheit irgend einer
Specialanllage gegen ein verdächtiges politisches Parteihaupt, vor einem Gerichts¬
hofe: eine Verdrehung, die alles Bedenkliche des Ostracismus in sich schließt,
ohne seine schützenden Wohlthaten."

Hierauf wird weiter ausgeführt, wie in den ersten 90 Jahren der Republik
der Ostracismus, und zwar immer seltener, zur Anwendung kam, nachher mit
dem zunehmenden Sicherheitsgefühl für die Konstitution verlor er seinen Halt
in den Gemüthern und kam nicht weiter zur Anwendung. Die Härte der Ma߬
regel wird mit den Verbannungen von Kronprätendenten und ihrer Familien,
wenigstens so lange man noch einen Anfang fürchtet, wie sie aus England und
Frankreich bekannt sind, verglichen.

Doch der größte Vorzug und gewiß gegen Alles, was Deutsche über alte
Geschichte geschrieben haben -- Niebuhr nicht ausgenommen -- ein ganz speci¬
fischer, ist noch zu'erwähnen. Es ist unter diesen englischen Geschichtschreibern
wenigstens wirksam, eine großartige Ansicht von alter Geschichte als eines Con-
tinunmS', und zwar einer continuirlichen Kulturgeschichte. Ju unseren Köpfen --
das wird sich Niemand verhehlen -- liegen neuere Geschichte und Geschichte der
alten Völker meistens in weiter Kluft auseinander. Das Entgegengesetzte tritt
nicht leicht auf eine ausgeprägtere Weise entgegen -- und in Grote findet man
es wieder -- als bei Macaulay namentlich in den Essay's. Geschichte ist Cultur¬
geschichte und als solche ein Continuum; denn die menschliche Cultur beginnt
eben nicht an einem beliebigen Punkte, sondern am Anfange ihres Beginnens.
Der Gedanke, die Institution, die Literatursorm, einmal erfunden und vorgebildet
-- sie wirken fort und fort, 'oft in alle Zukunft. Einem gebildeten Deutschen
würde es doch höchstens als eine Barbarei erscheinen, griechische Geschichte als
etwas Fernliegendes zu betrachten: Macaulay würde es gar nicht begreifen.

Macaulay -- ich will es ganz populair durch ein Beispiel aussprechen, das
aber für ihn vollkommen richtig ist -- Macaulay hat die Anschauung, wie ver¬
muthlich er keine Geschichte schreiben würde, wenn Herodot und, der wieder nur
nach dem Vorgänger Herodot sein konnte, Thucydides nicht gewesen waren:
-- oder wenn der Perserkrieg nicht gewesen wäre, durch welchen verhütet wurde,
daß Europa nicht exn orientalisches Barbarenland geworden: oder wenn Perikles
nicht gewesen wäre, der dem Athemlöcher Genius seine Freiheit der Entwickelung
gab, in der eine unübersehbare Masse wissenschaftlicher, staatlicher, künstlerischer
Gedanken entsprangen und sich formten, in Charakteren, in Einrichtungen, in
Schriftwerken: die tausend Fäden, welche von den Griechen angesponnen und


von der Konstitution wich, oder seine Achtung vor derselben verlor. Die Frage,
die ihm gestellt war: „ist Jemand da, der eurer Ansicht nach lebensgefährlich für
den Staat ist? und wenn, wer?" wiewol weit gefaßt, war doch direct und ge¬
setzlich vorgelegt. Wäre kein Ostracismus gewesen, so würde sie wahrscheinlich
indirect und ungesetzlich aufgestellt worden sein, bei Gelegenheit irgend einer
Specialanllage gegen ein verdächtiges politisches Parteihaupt, vor einem Gerichts¬
hofe: eine Verdrehung, die alles Bedenkliche des Ostracismus in sich schließt,
ohne seine schützenden Wohlthaten."

Hierauf wird weiter ausgeführt, wie in den ersten 90 Jahren der Republik
der Ostracismus, und zwar immer seltener, zur Anwendung kam, nachher mit
dem zunehmenden Sicherheitsgefühl für die Konstitution verlor er seinen Halt
in den Gemüthern und kam nicht weiter zur Anwendung. Die Härte der Ma߬
regel wird mit den Verbannungen von Kronprätendenten und ihrer Familien,
wenigstens so lange man noch einen Anfang fürchtet, wie sie aus England und
Frankreich bekannt sind, verglichen.

Doch der größte Vorzug und gewiß gegen Alles, was Deutsche über alte
Geschichte geschrieben haben — Niebuhr nicht ausgenommen — ein ganz speci¬
fischer, ist noch zu'erwähnen. Es ist unter diesen englischen Geschichtschreibern
wenigstens wirksam, eine großartige Ansicht von alter Geschichte als eines Con-
tinunmS', und zwar einer continuirlichen Kulturgeschichte. Ju unseren Köpfen —
das wird sich Niemand verhehlen — liegen neuere Geschichte und Geschichte der
alten Völker meistens in weiter Kluft auseinander. Das Entgegengesetzte tritt
nicht leicht auf eine ausgeprägtere Weise entgegen — und in Grote findet man
es wieder — als bei Macaulay namentlich in den Essay's. Geschichte ist Cultur¬
geschichte und als solche ein Continuum; denn die menschliche Cultur beginnt
eben nicht an einem beliebigen Punkte, sondern am Anfange ihres Beginnens.
Der Gedanke, die Institution, die Literatursorm, einmal erfunden und vorgebildet
— sie wirken fort und fort, 'oft in alle Zukunft. Einem gebildeten Deutschen
würde es doch höchstens als eine Barbarei erscheinen, griechische Geschichte als
etwas Fernliegendes zu betrachten: Macaulay würde es gar nicht begreifen.

Macaulay — ich will es ganz populair durch ein Beispiel aussprechen, das
aber für ihn vollkommen richtig ist — Macaulay hat die Anschauung, wie ver¬
muthlich er keine Geschichte schreiben würde, wenn Herodot und, der wieder nur
nach dem Vorgänger Herodot sein konnte, Thucydides nicht gewesen waren:
— oder wenn der Perserkrieg nicht gewesen wäre, durch welchen verhütet wurde,
daß Europa nicht exn orientalisches Barbarenland geworden: oder wenn Perikles
nicht gewesen wäre, der dem Athemlöcher Genius seine Freiheit der Entwickelung
gab, in der eine unübersehbare Masse wissenschaftlicher, staatlicher, künstlerischer
Gedanken entsprangen und sich formten, in Charakteren, in Einrichtungen, in
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[0145] von der Konstitution wich, oder seine Achtung vor derselben verlor. Die Frage, die ihm gestellt war: „ist Jemand da, der eurer Ansicht nach lebensgefährlich für den Staat ist? und wenn, wer?" wiewol weit gefaßt, war doch direct und ge¬ setzlich vorgelegt. Wäre kein Ostracismus gewesen, so würde sie wahrscheinlich indirect und ungesetzlich aufgestellt worden sein, bei Gelegenheit irgend einer Specialanllage gegen ein verdächtiges politisches Parteihaupt, vor einem Gerichts¬ hofe: eine Verdrehung, die alles Bedenkliche des Ostracismus in sich schließt, ohne seine schützenden Wohlthaten." Hierauf wird weiter ausgeführt, wie in den ersten 90 Jahren der Republik der Ostracismus, und zwar immer seltener, zur Anwendung kam, nachher mit dem zunehmenden Sicherheitsgefühl für die Konstitution verlor er seinen Halt in den Gemüthern und kam nicht weiter zur Anwendung. Die Härte der Ma߬ regel wird mit den Verbannungen von Kronprätendenten und ihrer Familien, wenigstens so lange man noch einen Anfang fürchtet, wie sie aus England und Frankreich bekannt sind, verglichen. Doch der größte Vorzug und gewiß gegen Alles, was Deutsche über alte Geschichte geschrieben haben — Niebuhr nicht ausgenommen — ein ganz speci¬ fischer, ist noch zu'erwähnen. Es ist unter diesen englischen Geschichtschreibern wenigstens wirksam, eine großartige Ansicht von alter Geschichte als eines Con- tinunmS', und zwar einer continuirlichen Kulturgeschichte. Ju unseren Köpfen — das wird sich Niemand verhehlen — liegen neuere Geschichte und Geschichte der alten Völker meistens in weiter Kluft auseinander. Das Entgegengesetzte tritt nicht leicht auf eine ausgeprägtere Weise entgegen — und in Grote findet man es wieder — als bei Macaulay namentlich in den Essay's. Geschichte ist Cultur¬ geschichte und als solche ein Continuum; denn die menschliche Cultur beginnt eben nicht an einem beliebigen Punkte, sondern am Anfange ihres Beginnens. Der Gedanke, die Institution, die Literatursorm, einmal erfunden und vorgebildet — sie wirken fort und fort, 'oft in alle Zukunft. Einem gebildeten Deutschen würde es doch höchstens als eine Barbarei erscheinen, griechische Geschichte als etwas Fernliegendes zu betrachten: Macaulay würde es gar nicht begreifen. Macaulay — ich will es ganz populair durch ein Beispiel aussprechen, das aber für ihn vollkommen richtig ist — Macaulay hat die Anschauung, wie ver¬ muthlich er keine Geschichte schreiben würde, wenn Herodot und, der wieder nur nach dem Vorgänger Herodot sein konnte, Thucydides nicht gewesen waren: — oder wenn der Perserkrieg nicht gewesen wäre, durch welchen verhütet wurde, daß Europa nicht exn orientalisches Barbarenland geworden: oder wenn Perikles nicht gewesen wäre, der dem Athemlöcher Genius seine Freiheit der Entwickelung gab, in der eine unübersehbare Masse wissenschaftlicher, staatlicher, künstlerischer Gedanken entsprangen und sich formten, in Charakteren, in Einrichtungen, in Schriftwerken: die tausend Fäden, welche von den Griechen angesponnen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/145>, abgerufen am 22.12.2024.