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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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erwartet werden: und die Aufgabe war, jeden vorweg von der Ueberschreitung
dieser Grenzen fern zu halten und der Nothwendigkeit vorzubeugen, ihn hinterher
niederzuwerfen unter all dem Blutvergießen nizd der Reaction, mit welcher ti>
freie Wirksamkeit der Constitution wenigstens suspendirt, wenn nicht unwiderruflich
vernichtet zu werdeu in Gefahr stand. Wer einen Einfluß zu gewinnen vermochte,
der ihn unter demokratischen Formen gefährlich machte, mußte offen genug vor
den Augen des Publicums stehen, um zur Beurtheilung seines Charakters und
seiner Zwecke mehr als einen vernünftigen Grund und Anhaltspunkt zu gewähren:
und die Sicherheit, welche die Vorsicht des Klisthenes schuf, war, über seine zu
vermuthende Zukunft einfach und gerade an das directe Urtheil der Bürger zu
appelliren, damit sie nicht zu lange zwischen zwei furchtbaren politischen Neben¬
buhlern sich unentschieden halten sollten." -- Klisthenes incorporirte der Cor-
.stitution selbst das Princip des "Soudergesetzes" (Privilegium im römischen Sinne),
doch nur uuter solennen und festbestimmten Formen mit voller vorgängiger Oeffent-
lichkeit und Discussion und unter dem directen geheimen Votum eines ansehn¬
lichen Theils der Bürgerschaft. "Kein Gesetz", hieß es, "soll gemacht werden
gegen einen einzelnen Bürger, es müßte denn so beschlossen werden von 6000
Bürgern in geheimer Abstimmung." Dies war" das allgemeine Princip der Con¬
stitution, unter dem der Ostracismus um ein besonderer Fall war. Bevor ein
Votum über den Ostracismus erfolge" konnte, mußte eine Verhandlung im Senat
und eine Volksversammlung stattfinden, es zu rechtfertigen. In der sechsten
Prytanie jedes Jahres besprachen und entschieden sich diese, beiden Körperschaften,
ob der Zustand der Republik so drohend sei, um zu einer solchen exceptionellen
Maßregel zu schreiten. Fiel ihre Entscheidung bejahend ans, so wurde ein Tag
bestimmt, der Platz der Volksversammlung wurde rings abgeschlossen, mit-10 Ein¬
gängen für den Bürger jeder der 10 Tribus, und 10 besonderen Urnen für die
abzugebenden Stimmen: es war in diesem Falle eine Muschel oder Scherbe mit
dem darauf geschriebenen Namen, deu jeder Bürger für die Verdauung bestimmte.
Mit Tagesschluß wurde die Zahl der Vota gezählt, und wenn 6000 Vota gegen
ein und dieselbe Person sich abgegeben fanden, wurde diese ostracisirt, wo nicht,
war das Verfahren ohne weitere Folgen. Zehn Tage wurden ihm zugestanden,
seine Angelegenheiten zu ordnen; dann mußte er Attika verlassen auf 10 Jahre,
behielt aber sein Vermögen und war keiner sonstigen Strafbelästignng unterworfen.

Es war zu Athen nicht Maxime, den Irrthümern des Volks dadurch zu
entgehen, daß man die verschiedenen Irrthümer und finsteren Interessen der im¬
mer außer dem Volke stehenden oder privilegirten Minorität anrief: und ein dritter
Weg war nicht offen, da die Grundsätze einer repräsentativen Regierung unbe¬
kannt, auch für sehr kleine Gemeinwesen in der That nicht wohl anwendbar waren.
Ueber das Urtheil des Volkes hinaus (dies war das Gefühl der Athener) gab
es keine Apellation, und ihre große Sorge war, den freien Ausspruch dieses Ur-


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erwartet werden: und die Aufgabe war, jeden vorweg von der Ueberschreitung
dieser Grenzen fern zu halten und der Nothwendigkeit vorzubeugen, ihn hinterher
niederzuwerfen unter all dem Blutvergießen nizd der Reaction, mit welcher ti>
freie Wirksamkeit der Constitution wenigstens suspendirt, wenn nicht unwiderruflich
vernichtet zu werdeu in Gefahr stand. Wer einen Einfluß zu gewinnen vermochte,
der ihn unter demokratischen Formen gefährlich machte, mußte offen genug vor
den Augen des Publicums stehen, um zur Beurtheilung seines Charakters und
seiner Zwecke mehr als einen vernünftigen Grund und Anhaltspunkt zu gewähren:
und die Sicherheit, welche die Vorsicht des Klisthenes schuf, war, über seine zu
vermuthende Zukunft einfach und gerade an das directe Urtheil der Bürger zu
appelliren, damit sie nicht zu lange zwischen zwei furchtbaren politischen Neben¬
buhlern sich unentschieden halten sollten." — Klisthenes incorporirte der Cor-
.stitution selbst das Princip des „Soudergesetzes" (Privilegium im römischen Sinne),
doch nur uuter solennen und festbestimmten Formen mit voller vorgängiger Oeffent-
lichkeit und Discussion und unter dem directen geheimen Votum eines ansehn¬
lichen Theils der Bürgerschaft. „Kein Gesetz", hieß es, „soll gemacht werden
gegen einen einzelnen Bürger, es müßte denn so beschlossen werden von 6000
Bürgern in geheimer Abstimmung." Dies war" das allgemeine Princip der Con¬
stitution, unter dem der Ostracismus um ein besonderer Fall war. Bevor ein
Votum über den Ostracismus erfolge» konnte, mußte eine Verhandlung im Senat
und eine Volksversammlung stattfinden, es zu rechtfertigen. In der sechsten
Prytanie jedes Jahres besprachen und entschieden sich diese, beiden Körperschaften,
ob der Zustand der Republik so drohend sei, um zu einer solchen exceptionellen
Maßregel zu schreiten. Fiel ihre Entscheidung bejahend ans, so wurde ein Tag
bestimmt, der Platz der Volksversammlung wurde rings abgeschlossen, mit-10 Ein¬
gängen für den Bürger jeder der 10 Tribus, und 10 besonderen Urnen für die
abzugebenden Stimmen: es war in diesem Falle eine Muschel oder Scherbe mit
dem darauf geschriebenen Namen, deu jeder Bürger für die Verdauung bestimmte.
Mit Tagesschluß wurde die Zahl der Vota gezählt, und wenn 6000 Vota gegen
ein und dieselbe Person sich abgegeben fanden, wurde diese ostracisirt, wo nicht,
war das Verfahren ohne weitere Folgen. Zehn Tage wurden ihm zugestanden,
seine Angelegenheiten zu ordnen; dann mußte er Attika verlassen auf 10 Jahre,
behielt aber sein Vermögen und war keiner sonstigen Strafbelästignng unterworfen.

Es war zu Athen nicht Maxime, den Irrthümern des Volks dadurch zu
entgehen, daß man die verschiedenen Irrthümer und finsteren Interessen der im¬
mer außer dem Volke stehenden oder privilegirten Minorität anrief: und ein dritter
Weg war nicht offen, da die Grundsätze einer repräsentativen Regierung unbe¬
kannt, auch für sehr kleine Gemeinwesen in der That nicht wohl anwendbar waren.
Ueber das Urtheil des Volkes hinaus (dies war das Gefühl der Athener) gab
es keine Apellation, und ihre große Sorge war, den freien Ausspruch dieses Ur-


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[0143] erwartet werden: und die Aufgabe war, jeden vorweg von der Ueberschreitung dieser Grenzen fern zu halten und der Nothwendigkeit vorzubeugen, ihn hinterher niederzuwerfen unter all dem Blutvergießen nizd der Reaction, mit welcher ti> freie Wirksamkeit der Constitution wenigstens suspendirt, wenn nicht unwiderruflich vernichtet zu werdeu in Gefahr stand. Wer einen Einfluß zu gewinnen vermochte, der ihn unter demokratischen Formen gefährlich machte, mußte offen genug vor den Augen des Publicums stehen, um zur Beurtheilung seines Charakters und seiner Zwecke mehr als einen vernünftigen Grund und Anhaltspunkt zu gewähren: und die Sicherheit, welche die Vorsicht des Klisthenes schuf, war, über seine zu vermuthende Zukunft einfach und gerade an das directe Urtheil der Bürger zu appelliren, damit sie nicht zu lange zwischen zwei furchtbaren politischen Neben¬ buhlern sich unentschieden halten sollten." — Klisthenes incorporirte der Cor- .stitution selbst das Princip des „Soudergesetzes" (Privilegium im römischen Sinne), doch nur uuter solennen und festbestimmten Formen mit voller vorgängiger Oeffent- lichkeit und Discussion und unter dem directen geheimen Votum eines ansehn¬ lichen Theils der Bürgerschaft. „Kein Gesetz", hieß es, „soll gemacht werden gegen einen einzelnen Bürger, es müßte denn so beschlossen werden von 6000 Bürgern in geheimer Abstimmung." Dies war" das allgemeine Princip der Con¬ stitution, unter dem der Ostracismus um ein besonderer Fall war. Bevor ein Votum über den Ostracismus erfolge» konnte, mußte eine Verhandlung im Senat und eine Volksversammlung stattfinden, es zu rechtfertigen. In der sechsten Prytanie jedes Jahres besprachen und entschieden sich diese, beiden Körperschaften, ob der Zustand der Republik so drohend sei, um zu einer solchen exceptionellen Maßregel zu schreiten. Fiel ihre Entscheidung bejahend ans, so wurde ein Tag bestimmt, der Platz der Volksversammlung wurde rings abgeschlossen, mit-10 Ein¬ gängen für den Bürger jeder der 10 Tribus, und 10 besonderen Urnen für die abzugebenden Stimmen: es war in diesem Falle eine Muschel oder Scherbe mit dem darauf geschriebenen Namen, deu jeder Bürger für die Verdauung bestimmte. Mit Tagesschluß wurde die Zahl der Vota gezählt, und wenn 6000 Vota gegen ein und dieselbe Person sich abgegeben fanden, wurde diese ostracisirt, wo nicht, war das Verfahren ohne weitere Folgen. Zehn Tage wurden ihm zugestanden, seine Angelegenheiten zu ordnen; dann mußte er Attika verlassen auf 10 Jahre, behielt aber sein Vermögen und war keiner sonstigen Strafbelästignng unterworfen. Es war zu Athen nicht Maxime, den Irrthümern des Volks dadurch zu entgehen, daß man die verschiedenen Irrthümer und finsteren Interessen der im¬ mer außer dem Volke stehenden oder privilegirten Minorität anrief: und ein dritter Weg war nicht offen, da die Grundsätze einer repräsentativen Regierung unbe¬ kannt, auch für sehr kleine Gemeinwesen in der That nicht wohl anwendbar waren. Ueber das Urtheil des Volkes hinaus (dies war das Gefühl der Athener) gab es keine Apellation, und ihre große Sorge war, den freien Ausspruch dieses Ur- 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/143>, abgerufen am 22.12.2024.