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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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wir eine constitutionelle Moral nennen möchten, eine allesübersteigende Ehrfurcht
für die Formen der Constitution, eine Achtung, die Gehorsam aufzwingt gegen
die Autoritäten, welche unter und innerhalb dieser Formen handeln, und doch
verbunden mit der Gewohnheit freier Rede, nur der bestimmten gesetzlichen Con-
trole unterworfenen Handelns, und unbeschränkter Kritik über jene Autoritäten in
allen ihren öffentlichen Handlungen; verbunden ferner mit dem vollkommenen
Vertrauen in der Brust eines jeden Bürgers, mitten unter den Bitterkeiten des
Purtcieustreites, daß die Formen der Constitution in den Augen seiner Opponen¬
ten nicht weniger heilig sein würden, als in seinen eigenen. Diese Koexistenz
von Freiheit und selbst auferlegter Beschränkung -- von Gehorsam gegen die Au¬
toritäten mit unbegrenzter Kritik über die Personen, welche sie ausüben -- dürfte
gefunden werden, eben sowol in der Aristokratie von England seit etwa 1688,
als in der Demokratie der vereinigten amerikanischen Staaten: und weil wir da¬
mit vertraut sind, find wir geneigt, es als ein natürliches Gefühl vorauszusetzen: und
doch, urtheilt man nach der Erfahrung der Geschichte, so scheint selten ein Gefühl
in einem Gemeinwesen schwerer zu gründen und auszubreiten. Betrachten wir"
nur, wie unvollkommen es bis-aus den heutigen Tag in den Schweizer Kantonen
vorhanden ist, und die Vielfachen Gewaltsamkeiten der ersten französischen Revo¬
lution können unter manchen anderen Lehren die verhängnißvollen Wirkungen dar¬
thun , welche ans der Abwesenheit desselben selbst unter einem Volke hervorgehen,
das auf so hoher Stufe der Intelligenz steht. Allein die Ausbreitung einer
solchen constirutionellen Moral, nicht nur unter der Majorität eines Gemein¬
wesens, sondern unter der Gesammtheit, ist die unumgängliche Bedingung eines
zugleich freien und friedlichen Regiments, da sogar eine kräftige und hartnäckige
Minorität die Wirksamkeit freier Institutionen hemmen kann, ohne stark genng
zu sein, das Uebergewicht sür sich selbst zu gewinnen. Nichts weniger als Ein-
müthigkeit, oder eine so überwiegende Majorität, daß sie der Uebereinstimmung
gleich kommt, in dem Kardinalpunkt der Achtung gegen die constitutionellen
Formen, selbst bei denen, welche nicht in allen Stücken mit ihnen zufrieden sind,
kann die Aufregung politischer Leidenschaft unblutig machen, und doch alle Auto¬
rität im Staat der vollen Freiheit friedlicher Kritik unterwerfen.

Zur Zeit des Klisthenes hatte eine solche constitutionelle Moral, wenn sie
überhaupt irgendwo vorhanden war, gewiß keine Stätte in Athen: und die erste
Begründung derselben in irgend einer Staatsgesellschaft muß als ein interessantes
historisches Factum angesehen werden. Durch den Geist seiner Reformen -- anf
der Basis der Gleichheit und Popularität und umfassend weit'über die bisherige
Erfahrung der Athener -- sichert er die herzliche Anhänglichkeit der großen
Bürgcrmasse: aber von der ersten Generation der leitenden Staatsmänner unter
der erst entstehenden Demokratie, und mit Pracedenzen, wie die, aus welche sie
zurückzuschallen hatten, konnten keine selbstauferlegten Beschränkungen des Ehrgeizes


wir eine constitutionelle Moral nennen möchten, eine allesübersteigende Ehrfurcht
für die Formen der Constitution, eine Achtung, die Gehorsam aufzwingt gegen
die Autoritäten, welche unter und innerhalb dieser Formen handeln, und doch
verbunden mit der Gewohnheit freier Rede, nur der bestimmten gesetzlichen Con-
trole unterworfenen Handelns, und unbeschränkter Kritik über jene Autoritäten in
allen ihren öffentlichen Handlungen; verbunden ferner mit dem vollkommenen
Vertrauen in der Brust eines jeden Bürgers, mitten unter den Bitterkeiten des
Purtcieustreites, daß die Formen der Constitution in den Augen seiner Opponen¬
ten nicht weniger heilig sein würden, als in seinen eigenen. Diese Koexistenz
von Freiheit und selbst auferlegter Beschränkung — von Gehorsam gegen die Au¬
toritäten mit unbegrenzter Kritik über die Personen, welche sie ausüben — dürfte
gefunden werden, eben sowol in der Aristokratie von England seit etwa 1688,
als in der Demokratie der vereinigten amerikanischen Staaten: und weil wir da¬
mit vertraut sind, find wir geneigt, es als ein natürliches Gefühl vorauszusetzen: und
doch, urtheilt man nach der Erfahrung der Geschichte, so scheint selten ein Gefühl
in einem Gemeinwesen schwerer zu gründen und auszubreiten. Betrachten wir«
nur, wie unvollkommen es bis-aus den heutigen Tag in den Schweizer Kantonen
vorhanden ist, und die Vielfachen Gewaltsamkeiten der ersten französischen Revo¬
lution können unter manchen anderen Lehren die verhängnißvollen Wirkungen dar¬
thun , welche ans der Abwesenheit desselben selbst unter einem Volke hervorgehen,
das auf so hoher Stufe der Intelligenz steht. Allein die Ausbreitung einer
solchen constirutionellen Moral, nicht nur unter der Majorität eines Gemein¬
wesens, sondern unter der Gesammtheit, ist die unumgängliche Bedingung eines
zugleich freien und friedlichen Regiments, da sogar eine kräftige und hartnäckige
Minorität die Wirksamkeit freier Institutionen hemmen kann, ohne stark genng
zu sein, das Uebergewicht sür sich selbst zu gewinnen. Nichts weniger als Ein-
müthigkeit, oder eine so überwiegende Majorität, daß sie der Uebereinstimmung
gleich kommt, in dem Kardinalpunkt der Achtung gegen die constitutionellen
Formen, selbst bei denen, welche nicht in allen Stücken mit ihnen zufrieden sind,
kann die Aufregung politischer Leidenschaft unblutig machen, und doch alle Auto¬
rität im Staat der vollen Freiheit friedlicher Kritik unterwerfen.

Zur Zeit des Klisthenes hatte eine solche constitutionelle Moral, wenn sie
überhaupt irgendwo vorhanden war, gewiß keine Stätte in Athen: und die erste
Begründung derselben in irgend einer Staatsgesellschaft muß als ein interessantes
historisches Factum angesehen werden. Durch den Geist seiner Reformen — anf
der Basis der Gleichheit und Popularität und umfassend weit'über die bisherige
Erfahrung der Athener — sichert er die herzliche Anhänglichkeit der großen
Bürgcrmasse: aber von der ersten Generation der leitenden Staatsmänner unter
der erst entstehenden Demokratie, und mit Pracedenzen, wie die, aus welche sie
zurückzuschallen hatten, konnten keine selbstauferlegten Beschränkungen des Ehrgeizes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/142>, abgerufen am 22.12.2024.