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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Seemacht, so daß sie dem zweiten Perserznge gegenüber nach 10 Jahren mit einer
Kriegsflotte von 200 Schiffen dastehen. Ferner das fabelhafte Emporwachsen der
Stadt Athen aus einem verwüsteten Boden mit den meilenlangen, Stadt und
Hafen zu einer Stadt verfestigenden Mauerbauten, und ihrer Seeherrschaft, die Ver¬
wandlung, um mich wieder eines Ausdrucks von Grote zu bedienen, des ägäischen
Meeres in einen attischen Binnensee; das Alles verleitet, so thöricht es ist, zu
der Vorstellung, man habe ein Epos vor sich. Dazu etwa, diesen beweglichen
Elementen gegenüber, das fortdauernde Hineinragen der spartanischen Verfassung
und Art, mit der eigenthümlichen archaistischen, scheinbar bisweilen naiven Fär¬
bung. Dann aber leiten auch die Quellen irre. Schon Herodot, zuverlässig
wie kein anderer, wo er seine Anschauungen berichtet, muß doch, wo er den Kri¬
tiker macht, mit Vorsicht benutzt werde" -- dann freilich kommt der vollendete
Thucydides mit dem vollkommenen diplomatischen und politisch-psychologischen
Blick -- aber da steht Aristophanes dagegen, der die wundervollsten Geschichtchen
debitirt, die das Lustigste wären, was man sich denken kann, wenn die Benutzung
derselben als historische Wahrheiten nicht noch lustiger wäre. Ju allen diesen
Punkten, Kritik wie staatsmännischer Auffassung, war immer noch außerordentlich
v.ick zu thun, und die Fortschritte hierin dnrch Grote sind ausnehmend groß, und
Neues und Treffendes überall zu finden.

Ich hoffe, daß folgende Stelle über den viel verhandelten Ostracismus sehr
geeignet sein wird, dies ins Licht zu setzen. Das Beste bisher hatte wol Nie-
buhr in den Vorlesungen gesagt (Bd. ,l, S. 40-1). In Athen, sagt er, bestand
damals dasselbe Recht, das im Mittelalter, namentlich in Italien dem Volke zu¬
stand, daß mächtige Bürger, die sich über alle anderen Bürger erhoben, verbannt
werden konnten, ohne daß sie Verbrecher zu sein brauchten. Dieses Recht findet
sich in den Statuten mancher italienischen Stadt im Mittelalter; so ist z. B.
in den Statuten von Tivoli, die ich gefunden habe, die Befugnis! der Stadt an¬
erkannt, ohne Verbrechen ldenjenigen Bürger zu verbannen, der gefährlich scheint.
Das war aber anch ein altes griechisches Recht. Man kann nicht läugnen, daß
dies ein hartes Recht war, aber in lie.inen Republiken, wo Revolutionen so leicht
möglich waren, war es gewiß eine wohlthätige Einrichtung, und es ist eben
eine von den harten Bedingungen, der Vorzüge kleiner Republiken." So Nie-
buhr. Um die folgende Darstellung Grote's zu verstehen, wird man sich erinnern,
daß die freie Wirksamkeit der solonischen Verfassung durch die Bestrebungen der
Parteihäuptcr wieder gehemmt worden war, daß nach Vertreibung der Pisistratiden
Klisthenes die freie Verfassung erweitert -- und diese zweite Schöpfung gegen
ähnliche Unternehmungen, wie man bei der solonischen sie erlebt, und gegen
Umsturz sicher zu stellen, führt er den Ostracismus ein. Nun spricht Grote also:
"Es war nöthig, in der Masse zu schaffen und dnrch sie den leitenden ehrgeizigen
Parteihäuptcru aufzuzwingen das seltene und schwer zu erzeugende Gefühl, das


Grenzboten. til. -I8S2. 4 7

Seemacht, so daß sie dem zweiten Perserznge gegenüber nach 10 Jahren mit einer
Kriegsflotte von 200 Schiffen dastehen. Ferner das fabelhafte Emporwachsen der
Stadt Athen aus einem verwüsteten Boden mit den meilenlangen, Stadt und
Hafen zu einer Stadt verfestigenden Mauerbauten, und ihrer Seeherrschaft, die Ver¬
wandlung, um mich wieder eines Ausdrucks von Grote zu bedienen, des ägäischen
Meeres in einen attischen Binnensee; das Alles verleitet, so thöricht es ist, zu
der Vorstellung, man habe ein Epos vor sich. Dazu etwa, diesen beweglichen
Elementen gegenüber, das fortdauernde Hineinragen der spartanischen Verfassung
und Art, mit der eigenthümlichen archaistischen, scheinbar bisweilen naiven Fär¬
bung. Dann aber leiten auch die Quellen irre. Schon Herodot, zuverlässig
wie kein anderer, wo er seine Anschauungen berichtet, muß doch, wo er den Kri¬
tiker macht, mit Vorsicht benutzt werde» — dann freilich kommt der vollendete
Thucydides mit dem vollkommenen diplomatischen und politisch-psychologischen
Blick — aber da steht Aristophanes dagegen, der die wundervollsten Geschichtchen
debitirt, die das Lustigste wären, was man sich denken kann, wenn die Benutzung
derselben als historische Wahrheiten nicht noch lustiger wäre. Ju allen diesen
Punkten, Kritik wie staatsmännischer Auffassung, war immer noch außerordentlich
v.ick zu thun, und die Fortschritte hierin dnrch Grote sind ausnehmend groß, und
Neues und Treffendes überall zu finden.

Ich hoffe, daß folgende Stelle über den viel verhandelten Ostracismus sehr
geeignet sein wird, dies ins Licht zu setzen. Das Beste bisher hatte wol Nie-
buhr in den Vorlesungen gesagt (Bd. ,l, S. 40-1). In Athen, sagt er, bestand
damals dasselbe Recht, das im Mittelalter, namentlich in Italien dem Volke zu¬
stand, daß mächtige Bürger, die sich über alle anderen Bürger erhoben, verbannt
werden konnten, ohne daß sie Verbrecher zu sein brauchten. Dieses Recht findet
sich in den Statuten mancher italienischen Stadt im Mittelalter; so ist z. B.
in den Statuten von Tivoli, die ich gefunden habe, die Befugnis! der Stadt an¬
erkannt, ohne Verbrechen ldenjenigen Bürger zu verbannen, der gefährlich scheint.
Das war aber anch ein altes griechisches Recht. Man kann nicht läugnen, daß
dies ein hartes Recht war, aber in lie.inen Republiken, wo Revolutionen so leicht
möglich waren, war es gewiß eine wohlthätige Einrichtung, und es ist eben
eine von den harten Bedingungen, der Vorzüge kleiner Republiken." So Nie-
buhr. Um die folgende Darstellung Grote's zu verstehen, wird man sich erinnern,
daß die freie Wirksamkeit der solonischen Verfassung durch die Bestrebungen der
Parteihäuptcr wieder gehemmt worden war, daß nach Vertreibung der Pisistratiden
Klisthenes die freie Verfassung erweitert — und diese zweite Schöpfung gegen
ähnliche Unternehmungen, wie man bei der solonischen sie erlebt, und gegen
Umsturz sicher zu stellen, führt er den Ostracismus ein. Nun spricht Grote also:
„Es war nöthig, in der Masse zu schaffen und dnrch sie den leitenden ehrgeizigen
Parteihäuptcru aufzuzwingen das seltene und schwer zu erzeugende Gefühl, das


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[0141] Seemacht, so daß sie dem zweiten Perserznge gegenüber nach 10 Jahren mit einer Kriegsflotte von 200 Schiffen dastehen. Ferner das fabelhafte Emporwachsen der Stadt Athen aus einem verwüsteten Boden mit den meilenlangen, Stadt und Hafen zu einer Stadt verfestigenden Mauerbauten, und ihrer Seeherrschaft, die Ver¬ wandlung, um mich wieder eines Ausdrucks von Grote zu bedienen, des ägäischen Meeres in einen attischen Binnensee; das Alles verleitet, so thöricht es ist, zu der Vorstellung, man habe ein Epos vor sich. Dazu etwa, diesen beweglichen Elementen gegenüber, das fortdauernde Hineinragen der spartanischen Verfassung und Art, mit der eigenthümlichen archaistischen, scheinbar bisweilen naiven Fär¬ bung. Dann aber leiten auch die Quellen irre. Schon Herodot, zuverlässig wie kein anderer, wo er seine Anschauungen berichtet, muß doch, wo er den Kri¬ tiker macht, mit Vorsicht benutzt werde» — dann freilich kommt der vollendete Thucydides mit dem vollkommenen diplomatischen und politisch-psychologischen Blick — aber da steht Aristophanes dagegen, der die wundervollsten Geschichtchen debitirt, die das Lustigste wären, was man sich denken kann, wenn die Benutzung derselben als historische Wahrheiten nicht noch lustiger wäre. Ju allen diesen Punkten, Kritik wie staatsmännischer Auffassung, war immer noch außerordentlich v.ick zu thun, und die Fortschritte hierin dnrch Grote sind ausnehmend groß, und Neues und Treffendes überall zu finden. Ich hoffe, daß folgende Stelle über den viel verhandelten Ostracismus sehr geeignet sein wird, dies ins Licht zu setzen. Das Beste bisher hatte wol Nie- buhr in den Vorlesungen gesagt (Bd. ,l, S. 40-1). In Athen, sagt er, bestand damals dasselbe Recht, das im Mittelalter, namentlich in Italien dem Volke zu¬ stand, daß mächtige Bürger, die sich über alle anderen Bürger erhoben, verbannt werden konnten, ohne daß sie Verbrecher zu sein brauchten. Dieses Recht findet sich in den Statuten mancher italienischen Stadt im Mittelalter; so ist z. B. in den Statuten von Tivoli, die ich gefunden habe, die Befugnis! der Stadt an¬ erkannt, ohne Verbrechen ldenjenigen Bürger zu verbannen, der gefährlich scheint. Das war aber anch ein altes griechisches Recht. Man kann nicht läugnen, daß dies ein hartes Recht war, aber in lie.inen Republiken, wo Revolutionen so leicht möglich waren, war es gewiß eine wohlthätige Einrichtung, und es ist eben eine von den harten Bedingungen, der Vorzüge kleiner Republiken." So Nie- buhr. Um die folgende Darstellung Grote's zu verstehen, wird man sich erinnern, daß die freie Wirksamkeit der solonischen Verfassung durch die Bestrebungen der Parteihäuptcr wieder gehemmt worden war, daß nach Vertreibung der Pisistratiden Klisthenes die freie Verfassung erweitert — und diese zweite Schöpfung gegen ähnliche Unternehmungen, wie man bei der solonischen sie erlebt, und gegen Umsturz sicher zu stellen, führt er den Ostracismus ein. Nun spricht Grote also: „Es war nöthig, in der Masse zu schaffen und dnrch sie den leitenden ehrgeizigen Parteihäuptcru aufzuzwingen das seltene und schwer zu erzeugende Gefühl, das Grenzboten. til. -I8S2. 4 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/141>, abgerufen am 22.12.2024.