Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schichte impräg"a"den Sinne, auf das Wesentliche gerichtet, beide gleich scharfe Men¬
sche"-Welt-Statitenbevdachtcr, in beiden die gleiche Virtuosität, ihre Beobachtung,
auch wo es galt und traf, in ewig wahre und annehmbare Gemeinplätze zu formu-
liren. Aber Thucydides hatte einen Stoff voll großer und offener Bewcgnnge",
zwei um zwei große Principe und deren Herrschaft ringende Parteien, eine zwar
durch die Parteiung selbst, und fast schon in der Sittlichkeit getrübte, aber immer
Energie entwickelnde Menschheit; für sich selbst die Freiheit, sein Inneres in
Schrift auszusprechen, wozu sein Genius ihn trieb; und wenn ihm etwa die
augenblicklich triumphirende Sache weniger gefiel, die Hoffnung auch eines Um¬
schwungs.

Tacitus hatte vor sich die vollbrachte Thatsache eines ehemals in Freiheit
und Energie strebenden, jetzt in Sclaverei und Jgnavie gesunkenen Volkes, und sei¬
nes Volkes. Mochten die Personen der Kaiser auch wechseln; eS blieb mit wenig ver¬
änderten Formen immer dieselbe Sache: von oben die böse Tyrannei, mit der Un¬
verträglichkeit gegen jede geistige oder sittliche Auszeichnung; von unten diese schon ge¬
gründete Immoralität, die in Feigheit, Hoffnungslosigkeit und gebotener Thatenlosig¬
keit, in Schmeichelei und Helfershelfern sich zu fristen oder zu poussiren suchte. Und.auf
diesem Boden geschah natürlich alles in Heimlichkeit und Aerstecktheit. Mau mußte
noch vielmehr nach Innen lauschen und gleichsam mit stethoskopischem Anlegen des
Ohrs. Wenn nun im Thucydides gleichsam die Begebenheiten in großen Wellen schla¬
gen , die wir allerdings als ein organisches Werden durch ihn empfinden und be¬
greifen : so lauschen wir bei Tacitus gleichsam den verborgenen kleinen Pulsen, durch
welche jener Proceß der Unterdrückung sich immer fortsetzt und unterhält, etwas ver¬
schieden "ach Individualitäten und Umstände". .Tacitus hat diesen Proceß voll¬
kommen begriffen: und wie Thucydides stets für.Staatsformen, die den Parteien
frei gegeneinander zu streben gestatten, der ewig richtig befundene und in ähnlichen
Umständen in seiner Wahrheit jedesmal neuerkannte und verstandene Typus sein
wird, so würde es in Zeiten absoluter Gewaltherrschaft Tacitus sein. Und wehe
dem Zeitalter, welches deu Tacitus ganz verstände. Aber Zustände wie diese --
wo es schwer war nicht an Götter" und Meuscheu zu verzweifeln -- denn wo
war damals eine Aussicht zur Möglichkeit des Umschwungs? und nach wie vielen
Jahrhunderten ist er gekommen? -- solche Zustände mußten auch das Gemüth
schwermüthig afficiren. Und diese Schwermuth des Taciteischen Gemüthes zieht
fühlbar noch als ein besonderer Reiz durch seine Werke hindurch. Wie tiefe
Furchen mußte in ihm die Erfahrung zurückgelassen haben, sein geistiges Leben
nicht aussprechen zu dürfen, und die ewig menschliche und patriotische Gesinnung,
was sein Volk einst war in Thatkraft, Freiheit und Tugend! Sah er nun jetzt
nur das niederschlagende Gegentheil, so mußten um so freudiger die vereinzelten
Beispiele der Tugend ihm entgegentreten, und die Mittheilung derselben von
höchster Wichtigkeit erscheine", als de" Glanben an die Menschheit allein noch


schichte impräg»a»den Sinne, auf das Wesentliche gerichtet, beide gleich scharfe Men¬
sche»-Welt-Statitenbevdachtcr, in beiden die gleiche Virtuosität, ihre Beobachtung,
auch wo es galt und traf, in ewig wahre und annehmbare Gemeinplätze zu formu-
liren. Aber Thucydides hatte einen Stoff voll großer und offener Bewcgnnge»,
zwei um zwei große Principe und deren Herrschaft ringende Parteien, eine zwar
durch die Parteiung selbst, und fast schon in der Sittlichkeit getrübte, aber immer
Energie entwickelnde Menschheit; für sich selbst die Freiheit, sein Inneres in
Schrift auszusprechen, wozu sein Genius ihn trieb; und wenn ihm etwa die
augenblicklich triumphirende Sache weniger gefiel, die Hoffnung auch eines Um¬
schwungs.

Tacitus hatte vor sich die vollbrachte Thatsache eines ehemals in Freiheit
und Energie strebenden, jetzt in Sclaverei und Jgnavie gesunkenen Volkes, und sei¬
nes Volkes. Mochten die Personen der Kaiser auch wechseln; eS blieb mit wenig ver¬
änderten Formen immer dieselbe Sache: von oben die böse Tyrannei, mit der Un¬
verträglichkeit gegen jede geistige oder sittliche Auszeichnung; von unten diese schon ge¬
gründete Immoralität, die in Feigheit, Hoffnungslosigkeit und gebotener Thatenlosig¬
keit, in Schmeichelei und Helfershelfern sich zu fristen oder zu poussiren suchte. Und.auf
diesem Boden geschah natürlich alles in Heimlichkeit und Aerstecktheit. Mau mußte
noch vielmehr nach Innen lauschen und gleichsam mit stethoskopischem Anlegen des
Ohrs. Wenn nun im Thucydides gleichsam die Begebenheiten in großen Wellen schla¬
gen , die wir allerdings als ein organisches Werden durch ihn empfinden und be¬
greifen : so lauschen wir bei Tacitus gleichsam den verborgenen kleinen Pulsen, durch
welche jener Proceß der Unterdrückung sich immer fortsetzt und unterhält, etwas ver¬
schieden »ach Individualitäten und Umstände». .Tacitus hat diesen Proceß voll¬
kommen begriffen: und wie Thucydides stets für.Staatsformen, die den Parteien
frei gegeneinander zu streben gestatten, der ewig richtig befundene und in ähnlichen
Umständen in seiner Wahrheit jedesmal neuerkannte und verstandene Typus sein
wird, so würde es in Zeiten absoluter Gewaltherrschaft Tacitus sein. Und wehe
dem Zeitalter, welches deu Tacitus ganz verstände. Aber Zustände wie diese —
wo es schwer war nicht an Götter» und Meuscheu zu verzweifeln — denn wo
war damals eine Aussicht zur Möglichkeit des Umschwungs? und nach wie vielen
Jahrhunderten ist er gekommen? — solche Zustände mußten auch das Gemüth
schwermüthig afficiren. Und diese Schwermuth des Taciteischen Gemüthes zieht
fühlbar noch als ein besonderer Reiz durch seine Werke hindurch. Wie tiefe
Furchen mußte in ihm die Erfahrung zurückgelassen haben, sein geistiges Leben
nicht aussprechen zu dürfen, und die ewig menschliche und patriotische Gesinnung,
was sein Volk einst war in Thatkraft, Freiheit und Tugend! Sah er nun jetzt
nur das niederschlagende Gegentheil, so mußten um so freudiger die vereinzelten
Beispiele der Tugend ihm entgegentreten, und die Mittheilung derselben von
höchster Wichtigkeit erscheine», als de» Glanben an die Menschheit allein noch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94577"/>
          <p xml:id="ID_359" prev="#ID_358"> schichte impräg»a»den Sinne, auf das Wesentliche gerichtet, beide gleich scharfe Men¬<lb/>
sche»-Welt-Statitenbevdachtcr, in beiden die gleiche Virtuosität, ihre Beobachtung,<lb/>
auch wo es galt und traf, in ewig wahre und annehmbare Gemeinplätze zu formu-<lb/>
liren. Aber Thucydides hatte einen Stoff voll großer und offener Bewcgnnge»,<lb/>
zwei um zwei große Principe und deren Herrschaft ringende Parteien, eine zwar<lb/>
durch die Parteiung selbst, und fast schon in der Sittlichkeit getrübte, aber immer<lb/>
Energie entwickelnde Menschheit; für sich selbst die Freiheit, sein Inneres in<lb/>
Schrift auszusprechen, wozu sein Genius ihn trieb; und wenn ihm etwa die<lb/>
augenblicklich triumphirende Sache weniger gefiel, die Hoffnung auch eines Um¬<lb/>
schwungs.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_360" next="#ID_361"> Tacitus hatte vor sich die vollbrachte Thatsache eines ehemals in Freiheit<lb/>
und Energie strebenden, jetzt in Sclaverei und Jgnavie gesunkenen Volkes, und sei¬<lb/>
nes Volkes. Mochten die Personen der Kaiser auch wechseln; eS blieb mit wenig ver¬<lb/>
änderten Formen immer dieselbe Sache: von oben die böse Tyrannei, mit der Un¬<lb/>
verträglichkeit gegen jede geistige oder sittliche Auszeichnung; von unten diese schon ge¬<lb/>
gründete Immoralität, die in Feigheit, Hoffnungslosigkeit und gebotener Thatenlosig¬<lb/>
keit, in Schmeichelei und Helfershelfern sich zu fristen oder zu poussiren suchte. Und.auf<lb/>
diesem Boden geschah natürlich alles in Heimlichkeit und Aerstecktheit. Mau mußte<lb/>
noch vielmehr nach Innen lauschen und gleichsam mit stethoskopischem Anlegen des<lb/>
Ohrs. Wenn nun im Thucydides gleichsam die Begebenheiten in großen Wellen schla¬<lb/>
gen , die wir allerdings als ein organisches Werden durch ihn empfinden und be¬<lb/>
greifen : so lauschen wir bei Tacitus gleichsam den verborgenen kleinen Pulsen, durch<lb/>
welche jener Proceß der Unterdrückung sich immer fortsetzt und unterhält, etwas ver¬<lb/>
schieden »ach Individualitäten und Umstände». .Tacitus hat diesen Proceß voll¬<lb/>
kommen begriffen: und wie Thucydides stets für.Staatsformen, die den Parteien<lb/>
frei gegeneinander zu streben gestatten, der ewig richtig befundene und in ähnlichen<lb/>
Umständen in seiner Wahrheit jedesmal neuerkannte und verstandene Typus sein<lb/>
wird, so würde es in Zeiten absoluter Gewaltherrschaft Tacitus sein. Und wehe<lb/>
dem Zeitalter, welches deu Tacitus ganz verstände. Aber Zustände wie diese &#x2014;<lb/>
wo es schwer war nicht an Götter» und Meuscheu zu verzweifeln &#x2014; denn wo<lb/>
war damals eine Aussicht zur Möglichkeit des Umschwungs? und nach wie vielen<lb/>
Jahrhunderten ist er gekommen? &#x2014; solche Zustände mußten auch das Gemüth<lb/>
schwermüthig afficiren. Und diese Schwermuth des Taciteischen Gemüthes zieht<lb/>
fühlbar noch als ein besonderer Reiz durch seine Werke hindurch. Wie tiefe<lb/>
Furchen mußte in ihm die Erfahrung zurückgelassen haben, sein geistiges Leben<lb/>
nicht aussprechen zu dürfen, und die ewig menschliche und patriotische Gesinnung,<lb/>
was sein Volk einst war in Thatkraft, Freiheit und Tugend! Sah er nun jetzt<lb/>
nur das niederschlagende Gegentheil, so mußten um so freudiger die vereinzelten<lb/>
Beispiele der Tugend ihm entgegentreten, und die Mittheilung derselben von<lb/>
höchster Wichtigkeit erscheine», als de» Glanben an die Menschheit allein noch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0136] schichte impräg»a»den Sinne, auf das Wesentliche gerichtet, beide gleich scharfe Men¬ sche»-Welt-Statitenbevdachtcr, in beiden die gleiche Virtuosität, ihre Beobachtung, auch wo es galt und traf, in ewig wahre und annehmbare Gemeinplätze zu formu- liren. Aber Thucydides hatte einen Stoff voll großer und offener Bewcgnnge», zwei um zwei große Principe und deren Herrschaft ringende Parteien, eine zwar durch die Parteiung selbst, und fast schon in der Sittlichkeit getrübte, aber immer Energie entwickelnde Menschheit; für sich selbst die Freiheit, sein Inneres in Schrift auszusprechen, wozu sein Genius ihn trieb; und wenn ihm etwa die augenblicklich triumphirende Sache weniger gefiel, die Hoffnung auch eines Um¬ schwungs. Tacitus hatte vor sich die vollbrachte Thatsache eines ehemals in Freiheit und Energie strebenden, jetzt in Sclaverei und Jgnavie gesunkenen Volkes, und sei¬ nes Volkes. Mochten die Personen der Kaiser auch wechseln; eS blieb mit wenig ver¬ änderten Formen immer dieselbe Sache: von oben die böse Tyrannei, mit der Un¬ verträglichkeit gegen jede geistige oder sittliche Auszeichnung; von unten diese schon ge¬ gründete Immoralität, die in Feigheit, Hoffnungslosigkeit und gebotener Thatenlosig¬ keit, in Schmeichelei und Helfershelfern sich zu fristen oder zu poussiren suchte. Und.auf diesem Boden geschah natürlich alles in Heimlichkeit und Aerstecktheit. Mau mußte noch vielmehr nach Innen lauschen und gleichsam mit stethoskopischem Anlegen des Ohrs. Wenn nun im Thucydides gleichsam die Begebenheiten in großen Wellen schla¬ gen , die wir allerdings als ein organisches Werden durch ihn empfinden und be¬ greifen : so lauschen wir bei Tacitus gleichsam den verborgenen kleinen Pulsen, durch welche jener Proceß der Unterdrückung sich immer fortsetzt und unterhält, etwas ver¬ schieden »ach Individualitäten und Umstände». .Tacitus hat diesen Proceß voll¬ kommen begriffen: und wie Thucydides stets für.Staatsformen, die den Parteien frei gegeneinander zu streben gestatten, der ewig richtig befundene und in ähnlichen Umständen in seiner Wahrheit jedesmal neuerkannte und verstandene Typus sein wird, so würde es in Zeiten absoluter Gewaltherrschaft Tacitus sein. Und wehe dem Zeitalter, welches deu Tacitus ganz verstände. Aber Zustände wie diese — wo es schwer war nicht an Götter» und Meuscheu zu verzweifeln — denn wo war damals eine Aussicht zur Möglichkeit des Umschwungs? und nach wie vielen Jahrhunderten ist er gekommen? — solche Zustände mußten auch das Gemüth schwermüthig afficiren. Und diese Schwermuth des Taciteischen Gemüthes zieht fühlbar noch als ein besonderer Reiz durch seine Werke hindurch. Wie tiefe Furchen mußte in ihm die Erfahrung zurückgelassen haben, sein geistiges Leben nicht aussprechen zu dürfen, und die ewig menschliche und patriotische Gesinnung, was sein Volk einst war in Thatkraft, Freiheit und Tugend! Sah er nun jetzt nur das niederschlagende Gegentheil, so mußten um so freudiger die vereinzelten Beispiele der Tugend ihm entgegentreten, und die Mittheilung derselben von höchster Wichtigkeit erscheine», als de» Glanben an die Menschheit allein noch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/136
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/136>, abgerufen am 22.12.2024.