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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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repräsentirt werden, und alle diese verschiedenen Ideale sollten sich in der einmal
angenommenen conventionellen Form ausdrücken. Eine Reaction gegen dieses
Wesen war durchaus nothwendig; aber sie hatte sehr Unrecht, wenn sie gegen die
Allgemeinheit der schonen Form überhaupt in die Schranken trat. Etwas Kon¬
ventionelles muß in jeder Kunst liegen. Es ist ganz ähnlich in der Male¬
rei. In deu Zeiten des Klassicismus suchte man eigentlich n"r die con¬
ventionellen SchönhcitSlinicn darzustellen und zu diesem Zweck beliebige Ge¬
stalten und Situationen zu gruppiren. Das war gewiß falsch; aber eben
so falsch ist es, wenn man die Rücksicht auf die Schvnheitslinien, ans den
eigentlichen Styl der Kunst ganz ans den Augen setzt, wie es in der neuern
französischen Malerei geschieht. Ans eine ähnliche Weise sündigen Victor Hugo
und Hebbel an der Kunst, so sehr wir ihnen Recht geben, wenn sie die gewöhn¬
lichen Schranken der conventionellen Schönheit durchbrechen; sie sündigen, indem
sie nicht blos das Gebiet der Schönheit erweitern, sondern das wirklich Häßliche, ja
das Widerwärtige zum Gegenstand ihrer Darstellung machen, und in diesem Punkt
halten wir ganz streng an dem Gesetz der Griechen: das wirtlich Ekelhafte darf
auf der Bühne keinen Platz finden, und was nicht in einer idealen Form dar¬
gestellt werden kann, hat überhaupt nicht das Recht, künstlerisch dargestellt
zu werden.

Das Princip des Realismus leidet aber an einem andern, viel schlimmern
Gebrechen. Allerdings soll die darstellende Kunst wie die Malerei nichts geben,
als die Wahrheit, und zwar die irdische Wahrheit, denn ^eine andere giebt es
nicht; auch wo sie Götter, Engel und Dämonen darstellt, sollen wir diese Ge¬
stalten mit unserer irdischen Phantasie als wahr empfinden. Das hat z. B.
Shakspeare in seinem Kaliban, das haben'die Alten in ihren Centauren erreicht,
das erreicht Rafael in seiner Sixtinischen Madonna. Wir müssen in der An¬
schauung der Malerei wie der darstellenden Kunst empfinden, daß die dargestell¬
ten Personen nicht anders aussehen, nicht anders'sich benehmen könnten, als sie
aussehen, als sie sich benehmen. Aber gerade diese Idee der Nothwendigkeit
verkennt der moderne Realismus. Er nimmt seine Wahrheit aus dem zufälligen
Kreis der Empirie, er hat zufällig einer Poissarde zugesehen, wie sie sich zankt,
und läßt nun eine Königin ans dieselbe Weise sich zanken. So macht es z. B.
Victor Hugo in seiner Marie Tudor, in seiner Lucretia. Etwas physisch Un¬
mögliches ist das nicht, es ist wohl möglich, daß mich bei einer Königin die
Leidenschaft so gewaltig über Erziehung und Sitte herausdrängt, daß sie sich
geberdet wie eine Poissarde, aber diese empirische Möglichkeit ist keineswegs
künstlerische Wahrheit. Jene Verschiedenartigkeit der Naturen kann zufällig zu¬
sammen kommen/ aber sie soll es eigentlich nicht, und hier bleibt Sophokles'
Spruch ewig wahr: der Dichter soll die Menschen darstellen/nicht wie sie sind,
sondern wie sie sein sollen. Das heißt nicht etwa, er soll sie zu Engeln machen,


repräsentirt werden, und alle diese verschiedenen Ideale sollten sich in der einmal
angenommenen conventionellen Form ausdrücken. Eine Reaction gegen dieses
Wesen war durchaus nothwendig; aber sie hatte sehr Unrecht, wenn sie gegen die
Allgemeinheit der schonen Form überhaupt in die Schranken trat. Etwas Kon¬
ventionelles muß in jeder Kunst liegen. Es ist ganz ähnlich in der Male¬
rei. In deu Zeiten des Klassicismus suchte man eigentlich n»r die con¬
ventionellen SchönhcitSlinicn darzustellen und zu diesem Zweck beliebige Ge¬
stalten und Situationen zu gruppiren. Das war gewiß falsch; aber eben
so falsch ist es, wenn man die Rücksicht auf die Schvnheitslinien, ans den
eigentlichen Styl der Kunst ganz ans den Augen setzt, wie es in der neuern
französischen Malerei geschieht. Ans eine ähnliche Weise sündigen Victor Hugo
und Hebbel an der Kunst, so sehr wir ihnen Recht geben, wenn sie die gewöhn¬
lichen Schranken der conventionellen Schönheit durchbrechen; sie sündigen, indem
sie nicht blos das Gebiet der Schönheit erweitern, sondern das wirklich Häßliche, ja
das Widerwärtige zum Gegenstand ihrer Darstellung machen, und in diesem Punkt
halten wir ganz streng an dem Gesetz der Griechen: das wirtlich Ekelhafte darf
auf der Bühne keinen Platz finden, und was nicht in einer idealen Form dar¬
gestellt werden kann, hat überhaupt nicht das Recht, künstlerisch dargestellt
zu werden.

Das Princip des Realismus leidet aber an einem andern, viel schlimmern
Gebrechen. Allerdings soll die darstellende Kunst wie die Malerei nichts geben,
als die Wahrheit, und zwar die irdische Wahrheit, denn ^eine andere giebt es
nicht; auch wo sie Götter, Engel und Dämonen darstellt, sollen wir diese Ge¬
stalten mit unserer irdischen Phantasie als wahr empfinden. Das hat z. B.
Shakspeare in seinem Kaliban, das haben'die Alten in ihren Centauren erreicht,
das erreicht Rafael in seiner Sixtinischen Madonna. Wir müssen in der An¬
schauung der Malerei wie der darstellenden Kunst empfinden, daß die dargestell¬
ten Personen nicht anders aussehen, nicht anders'sich benehmen könnten, als sie
aussehen, als sie sich benehmen. Aber gerade diese Idee der Nothwendigkeit
verkennt der moderne Realismus. Er nimmt seine Wahrheit aus dem zufälligen
Kreis der Empirie, er hat zufällig einer Poissarde zugesehen, wie sie sich zankt,
und läßt nun eine Königin ans dieselbe Weise sich zanken. So macht es z. B.
Victor Hugo in seiner Marie Tudor, in seiner Lucretia. Etwas physisch Un¬
mögliches ist das nicht, es ist wohl möglich, daß mich bei einer Königin die
Leidenschaft so gewaltig über Erziehung und Sitte herausdrängt, daß sie sich
geberdet wie eine Poissarde, aber diese empirische Möglichkeit ist keineswegs
künstlerische Wahrheit. Jene Verschiedenartigkeit der Naturen kann zufällig zu¬
sammen kommen/ aber sie soll es eigentlich nicht, und hier bleibt Sophokles'
Spruch ewig wahr: der Dichter soll die Menschen darstellen/nicht wie sie sind,
sondern wie sie sein sollen. Das heißt nicht etwa, er soll sie zu Engeln machen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/105>, abgerufen am 22.12.2024.