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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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bart einen klaren Sinn, welcher mit Bewußtsein und Energie nach einem bestimmten
Ziele hingeht. Der arme Knabe soll reich und glücklich werden, und seine bösen
Widersacher werden strenge verurtheilt, oder ein thörichter Sinn versucht, gegen
das Gefühl für Ordnung und Recht zu handeln, und wird von seiner Thorheit
überführt. Immer ist eine entscheidende Katastrophe und ein kräftiger Abschluß
sichtbar. Immer eine Steigerung der Handlung in der Weise, daß die Abenteuer
und Hindernisse in Variationen wiederkehren, wobei die Zahl Drei ihre alte wichtige
Rolle spielt. Wie in aller naiven Poesie wird wenig motivirt, nach dem Warum
fragt das Märchen selten, die Personen haben bei aller seinen Charakteristik,
welche häufig in den einzelnen Situationen herausbricht, doch im Ganzen die
allereinfachste Anlage. Sie sind böse oder gut; idealisirte Charaktere erscheinen in
Märchen nur selten. Wo charakterisirt wird, ist es eine einzelne Eigenschaft des
Menschen, um welche sich die Erzählung dreht; er kann sich z. B. nicht fürchten, oder
er fürchtet sich immer; oft ist diese Eigenschaft eine körperliche, eine große Nase;
kleiner Wuchs, große Stärke, oder sie erscheint als eine Begabung, welche dem
Menschen durch Andere geworden ist u. s. w.

Die Volkseigenthümlichkeit, welche sich in dem deutscheu Märchen ausspricht,
ist eine sehr liebenswürdige. Es giebt hier einige Grundanschauungen, welche in
unzähligen Variationen immer wiederkehren. Es ist der Arme, Bescheidene, Ge¬
müthvolle, welcher das höchste Ziel erreicht, der Reiche, Stolze, Fordernde wird
gedemüthigt. Der jüngere Sohn, der scheinbar Einfältige, der, welcher gut ist
gegen seine Umgebung, wer die Vögel liebt, den Thieren Erbarmen schenkt, die
kleinen Naturgeister ehrt, wird glücklich; aber furchtlos und unternehmend muß
der Glückliche sein, seine Kraft und Thätigkeit ist es zuletzt, welche die Sache
beenden muß. Der Held hat Freunde und Feinde, beide bleiben ihrem Charakter
treu. Dankbarkeit gegen die Aeltern und die, von denen man Gutes genossen,
rücksichtsloser Haß gegen die Feinde, eine treue und eifrige Gesinnung werden
überall verlangt. Immer findet der Mensch in der größte" Noth seiue Helfer,
und diese Bundesgenossen handeln nicht nur nach dem Grundsatz: Hilf mir, damit
ich dir helfe, sondern eben so oft uneigennützig. Die Liebe erscheint als ewig;
wo sie eine Zeit lang verschwindet, geschieht das durch Bezauberung. Die Auf¬
gabe des Weibes ist, zu lieben; hochmüthiger Stolz wird bei der Königstochter
immer gestraft, auf prüde Zurückhaltung der Geliebten giebt das Märchen nichts.
Sich dem Manne ganz hingeben, vielleicht schon im ersten Augenblick der Bekannt¬
schaft, gilt der Heldin für keinen Vorwurf, sie wird vielleicht verstoßen, wenn sie
Mutter wird, und geräth in das größte Unglück, aber sie bleibt dem Erzähler
und den guten Beschützern des Menschen deshalb eben so lieb. Diebstahl gilt in
der Regel nur als Verbrechen gegen das Heimische, Naheliegende, in des fremden
Königs Land hat der Märchenheld große Licenzen. Die Strafen, welche zuletzt
die Bösen treffen, sind hart, in der Regel ein qualvoller Tod; die schlechten Motive,


bart einen klaren Sinn, welcher mit Bewußtsein und Energie nach einem bestimmten
Ziele hingeht. Der arme Knabe soll reich und glücklich werden, und seine bösen
Widersacher werden strenge verurtheilt, oder ein thörichter Sinn versucht, gegen
das Gefühl für Ordnung und Recht zu handeln, und wird von seiner Thorheit
überführt. Immer ist eine entscheidende Katastrophe und ein kräftiger Abschluß
sichtbar. Immer eine Steigerung der Handlung in der Weise, daß die Abenteuer
und Hindernisse in Variationen wiederkehren, wobei die Zahl Drei ihre alte wichtige
Rolle spielt. Wie in aller naiven Poesie wird wenig motivirt, nach dem Warum
fragt das Märchen selten, die Personen haben bei aller seinen Charakteristik,
welche häufig in den einzelnen Situationen herausbricht, doch im Ganzen die
allereinfachste Anlage. Sie sind böse oder gut; idealisirte Charaktere erscheinen in
Märchen nur selten. Wo charakterisirt wird, ist es eine einzelne Eigenschaft des
Menschen, um welche sich die Erzählung dreht; er kann sich z. B. nicht fürchten, oder
er fürchtet sich immer; oft ist diese Eigenschaft eine körperliche, eine große Nase;
kleiner Wuchs, große Stärke, oder sie erscheint als eine Begabung, welche dem
Menschen durch Andere geworden ist u. s. w.

Die Volkseigenthümlichkeit, welche sich in dem deutscheu Märchen ausspricht,
ist eine sehr liebenswürdige. Es giebt hier einige Grundanschauungen, welche in
unzähligen Variationen immer wiederkehren. Es ist der Arme, Bescheidene, Ge¬
müthvolle, welcher das höchste Ziel erreicht, der Reiche, Stolze, Fordernde wird
gedemüthigt. Der jüngere Sohn, der scheinbar Einfältige, der, welcher gut ist
gegen seine Umgebung, wer die Vögel liebt, den Thieren Erbarmen schenkt, die
kleinen Naturgeister ehrt, wird glücklich; aber furchtlos und unternehmend muß
der Glückliche sein, seine Kraft und Thätigkeit ist es zuletzt, welche die Sache
beenden muß. Der Held hat Freunde und Feinde, beide bleiben ihrem Charakter
treu. Dankbarkeit gegen die Aeltern und die, von denen man Gutes genossen,
rücksichtsloser Haß gegen die Feinde, eine treue und eifrige Gesinnung werden
überall verlangt. Immer findet der Mensch in der größte» Noth seiue Helfer,
und diese Bundesgenossen handeln nicht nur nach dem Grundsatz: Hilf mir, damit
ich dir helfe, sondern eben so oft uneigennützig. Die Liebe erscheint als ewig;
wo sie eine Zeit lang verschwindet, geschieht das durch Bezauberung. Die Auf¬
gabe des Weibes ist, zu lieben; hochmüthiger Stolz wird bei der Königstochter
immer gestraft, auf prüde Zurückhaltung der Geliebten giebt das Märchen nichts.
Sich dem Manne ganz hingeben, vielleicht schon im ersten Augenblick der Bekannt¬
schaft, gilt der Heldin für keinen Vorwurf, sie wird vielleicht verstoßen, wenn sie
Mutter wird, und geräth in das größte Unglück, aber sie bleibt dem Erzähler
und den guten Beschützern des Menschen deshalb eben so lieb. Diebstahl gilt in
der Regel nur als Verbrechen gegen das Heimische, Naheliegende, in des fremden
Königs Land hat der Märchenheld große Licenzen. Die Strafen, welche zuletzt
die Bösen treffen, sind hart, in der Regel ein qualvoller Tod; die schlechten Motive,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/92>, abgerufen am 24.07.2024.