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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Das deutsche Volksmärchen und seine Literatur.

Seit das Volksmärchen in seinem bescheidenen Kleide durch Literarhistoriker
und Dichter in dem Kreise der poetischen Schöpfungen des Menschengeschlechts
legitimirt ist, hat sich auch bei den zahlreichen erwachsenen Lesern der Märchen¬
sammlungen der Sinn für das ausgebildet, was im Volksmärchen für alle Zeiten
von Bedeutung sein wird. Das Märchen hat für uns ein poetisches, ein psychologisches
und ein antiquarisches Interesse. Der poetische Werth des Volksmärchens liegt
zunächst darin, daß der Mensch in demselben fortdauernd in idealen Beziehungen
zu der Natur und seinen Mitmenschen gedacht wird, so daß ihm zu Liebe oder
Leide die gesammten Kräfte der Welt in phantastischen Verkörperungen thätig
erscheinen. Der Werth der Märchen wird dadurch bestimmt, ob die Zwecke und
Thaten des handelnden und leidenden Menschenkindes ein allgemeines mensch¬
liches Interesse haben, oder ob wir in dem bunten phantastischen Spiel der Mächte,
welche als Freunde oder Feinde des Menschen austreten, Reichthum und Grazie
der Erfindung erkennen. Ferner aber liegt der poetische Zauber des Volksmärchens
darin, daß die gesammte ideale Welt, in welcher die Handlung abspielt, naiv
und unmittelbar empfunden ist, und daß die Beziehungen des Menschen zu der
äußeren gegenständlichen Natur wie zu anderen Menschen eine Liebe, Treuherzigkeit
und Einfachheit zeigen, welche dem verständigen Zusammenhange der Wirklichkeit
so fern steht, daß wir dieselbe als den vollständigen Gegensatz mit großer innerer
Freiheit zu genießen im Stande sind. Es ist so viel von der Methode des Em¬
pfindens und Combinirens, welche ein gemüthvvlles Kind besitzt, darin vorhanden,
daß sie uns den Eindruck des Kindlichen im schönsten Sinne des Worts machen.
Dazu kommt bei dem deutschen Volksmärchen noch ein anderer Reiz; wir Alle
haben selbst in unsrer Kinderzeit viele dieser Märchen gehört und durchgenossen,
und das freudige begeisterte Genießen hat in unsrer Seele eine gewisse Zärtlichkeit
für diese ursprünglich poetischen Bildungen zurückgelassen, freundliche Erinnerungen
an eine ideale Welt, ans welcher unser verständiger Geist allmählich herausgewachsen
ist.-- Der künstlerische Bau des deutscheu Volksmärchens ist einfach, aber er offen-


Grenzboten. II. 18S2.
Das deutsche Volksmärchen und seine Literatur.

Seit das Volksmärchen in seinem bescheidenen Kleide durch Literarhistoriker
und Dichter in dem Kreise der poetischen Schöpfungen des Menschengeschlechts
legitimirt ist, hat sich auch bei den zahlreichen erwachsenen Lesern der Märchen¬
sammlungen der Sinn für das ausgebildet, was im Volksmärchen für alle Zeiten
von Bedeutung sein wird. Das Märchen hat für uns ein poetisches, ein psychologisches
und ein antiquarisches Interesse. Der poetische Werth des Volksmärchens liegt
zunächst darin, daß der Mensch in demselben fortdauernd in idealen Beziehungen
zu der Natur und seinen Mitmenschen gedacht wird, so daß ihm zu Liebe oder
Leide die gesammten Kräfte der Welt in phantastischen Verkörperungen thätig
erscheinen. Der Werth der Märchen wird dadurch bestimmt, ob die Zwecke und
Thaten des handelnden und leidenden Menschenkindes ein allgemeines mensch¬
liches Interesse haben, oder ob wir in dem bunten phantastischen Spiel der Mächte,
welche als Freunde oder Feinde des Menschen austreten, Reichthum und Grazie
der Erfindung erkennen. Ferner aber liegt der poetische Zauber des Volksmärchens
darin, daß die gesammte ideale Welt, in welcher die Handlung abspielt, naiv
und unmittelbar empfunden ist, und daß die Beziehungen des Menschen zu der
äußeren gegenständlichen Natur wie zu anderen Menschen eine Liebe, Treuherzigkeit
und Einfachheit zeigen, welche dem verständigen Zusammenhange der Wirklichkeit
so fern steht, daß wir dieselbe als den vollständigen Gegensatz mit großer innerer
Freiheit zu genießen im Stande sind. Es ist so viel von der Methode des Em¬
pfindens und Combinirens, welche ein gemüthvvlles Kind besitzt, darin vorhanden,
daß sie uns den Eindruck des Kindlichen im schönsten Sinne des Worts machen.
Dazu kommt bei dem deutschen Volksmärchen noch ein anderer Reiz; wir Alle
haben selbst in unsrer Kinderzeit viele dieser Märchen gehört und durchgenossen,
und das freudige begeisterte Genießen hat in unsrer Seele eine gewisse Zärtlichkeit
für diese ursprünglich poetischen Bildungen zurückgelassen, freundliche Erinnerungen
an eine ideale Welt, ans welcher unser verständiger Geist allmählich herausgewachsen
ist.— Der künstlerische Bau des deutscheu Volksmärchens ist einfach, aber er offen-


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[0091] Das deutsche Volksmärchen und seine Literatur. Seit das Volksmärchen in seinem bescheidenen Kleide durch Literarhistoriker und Dichter in dem Kreise der poetischen Schöpfungen des Menschengeschlechts legitimirt ist, hat sich auch bei den zahlreichen erwachsenen Lesern der Märchen¬ sammlungen der Sinn für das ausgebildet, was im Volksmärchen für alle Zeiten von Bedeutung sein wird. Das Märchen hat für uns ein poetisches, ein psychologisches und ein antiquarisches Interesse. Der poetische Werth des Volksmärchens liegt zunächst darin, daß der Mensch in demselben fortdauernd in idealen Beziehungen zu der Natur und seinen Mitmenschen gedacht wird, so daß ihm zu Liebe oder Leide die gesammten Kräfte der Welt in phantastischen Verkörperungen thätig erscheinen. Der Werth der Märchen wird dadurch bestimmt, ob die Zwecke und Thaten des handelnden und leidenden Menschenkindes ein allgemeines mensch¬ liches Interesse haben, oder ob wir in dem bunten phantastischen Spiel der Mächte, welche als Freunde oder Feinde des Menschen austreten, Reichthum und Grazie der Erfindung erkennen. Ferner aber liegt der poetische Zauber des Volksmärchens darin, daß die gesammte ideale Welt, in welcher die Handlung abspielt, naiv und unmittelbar empfunden ist, und daß die Beziehungen des Menschen zu der äußeren gegenständlichen Natur wie zu anderen Menschen eine Liebe, Treuherzigkeit und Einfachheit zeigen, welche dem verständigen Zusammenhange der Wirklichkeit so fern steht, daß wir dieselbe als den vollständigen Gegensatz mit großer innerer Freiheit zu genießen im Stande sind. Es ist so viel von der Methode des Em¬ pfindens und Combinirens, welche ein gemüthvvlles Kind besitzt, darin vorhanden, daß sie uns den Eindruck des Kindlichen im schönsten Sinne des Worts machen. Dazu kommt bei dem deutschen Volksmärchen noch ein anderer Reiz; wir Alle haben selbst in unsrer Kinderzeit viele dieser Märchen gehört und durchgenossen, und das freudige begeisterte Genießen hat in unsrer Seele eine gewisse Zärtlichkeit für diese ursprünglich poetischen Bildungen zurückgelassen, freundliche Erinnerungen an eine ideale Welt, ans welcher unser verständiger Geist allmählich herausgewachsen ist.— Der künstlerische Bau des deutscheu Volksmärchens ist einfach, aber er offen- Grenzboten. II. 18S2.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/91>, abgerufen am 04.07.2024.