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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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die skandalösesten Geschichten erzählt werden, so fragt sich das Publicum natürlich:
sollte nicht etwas Wahres dahinter sein? sollte nicht dieser oder jener wohlbe¬
kannte Präsident, dieser oder jener Consistorialrath wirklich in seinem Privatleben
schwache Stunden gehabt haben? Natürlich täuscht es sich in dieser Vermuthung;
mit Ausnahme von einigen bekannten Charaktcrzügen, von Nadowitz u. s. w.,
die man eben so gut bei Laube und Anderen nachlesen kann, ist Alles Erfindung;
aber der Dichter hat seinen Zweck erreicht, er hat durch seine Rebusse die Neu¬
gier des Publicums rege gemacht, und diese Zuthat giebt seinen Erfindungen
jenen pikanten Beigeschmack, ohne den sie sonst ungenießbar sein würden. Gutz-
kow hat sogar sorgfältig bei seinen historischen Persönlichkeiten einzelne Züge
angebracht, die nicht auf sie passen können, um sich nach allen Seiten hin sicher
zu stellen; er hat die hochgestellten Personen, auch wo er auf sie stichelt, mit
jener Schonung behandelt, die heut zu Tage unvermeidlich ist, die aber anch
jede ernste, große Ausfassung unmöglich macht. Durch diese Methode wird
einerseits die Geschichte entstellt, andererseits die Kunst, denn aus einzelnen
Anekdoten und Charakterzügen geht kein lebendiger Charakter hervor. Wo man
historische Persönlichkeiten künstlerisch nachschaffen will, muß mau, wie W. Scott,
aus vollem Holze schneiden dürfen.

Eine Geschichte der Revolution von 1848, mit genauer Berücksichtigung der
gesellschaftlichen Zustände, zu schreiben, wäre eine sehr dankbare Aufgabe, wenn
auch nicht gerade jetzt; aber an sehr ernsthafte, tragische und fratzenhafte Kolli¬
sionen, an deuen wir noch heute bis in unser innerstes Mark leiden, einen der
Wirklichkeit widersprechenden Roman anzuknüpfen, bei dem man vergebens nach
Absicht und Zweck fragt, ist doch wol ein eben so frevelhafter als ungeschickter
Einfall.

Dieser politische Inhalt des Romans ist folgender. Wir finden uns
ungefähr in den Zeiten des Ministeriums Hansemann; wenigstens wird das Mi¬
nisterium ein bürgerliches, vom Hof, wie von der Demokratie verachtetes ge¬
nannt. Freilich wollen manche von den geschilderten Zuständen nicht in diese
Zeit passen. Von der Existenz.einer Straßendemokratie ist nicht die Rede, in
allen Gesellschaften und Ständen ist vielmehr der Rcubund (Treubund) über¬
mächtig. Noch steht es aber so, daß eine opponirende Majorität in der National¬
versammlung die Regierung stürzen kann. Das Ministerium macht die Frage:
ob ein Minister das Recht hat, in der Kammer das Wort zu jeder Zeit zu er¬
greifen, zu einer Cabinetsfrage, bleibt mit einigen zwanzig Stimmen in der
Minorität und tritt in Folge dessen ab. Der König erhebt einen Fürsten Egon
von Hohenberg, den Sohn eines berühmten Feldmarschalls, zum Minister¬
präsidenten. Dieser geistreiche junge Mann hat einige Jahre in Paris als Tischler¬
geselle gelebt und von diesem Aufenthalt socialistisch-demokratische Grundsätze,
freilich mit stark aristokratisch-monarchischen Beigeschmack, mitgebracht. Er stimmte


die skandalösesten Geschichten erzählt werden, so fragt sich das Publicum natürlich:
sollte nicht etwas Wahres dahinter sein? sollte nicht dieser oder jener wohlbe¬
kannte Präsident, dieser oder jener Consistorialrath wirklich in seinem Privatleben
schwache Stunden gehabt haben? Natürlich täuscht es sich in dieser Vermuthung;
mit Ausnahme von einigen bekannten Charaktcrzügen, von Nadowitz u. s. w.,
die man eben so gut bei Laube und Anderen nachlesen kann, ist Alles Erfindung;
aber der Dichter hat seinen Zweck erreicht, er hat durch seine Rebusse die Neu¬
gier des Publicums rege gemacht, und diese Zuthat giebt seinen Erfindungen
jenen pikanten Beigeschmack, ohne den sie sonst ungenießbar sein würden. Gutz-
kow hat sogar sorgfältig bei seinen historischen Persönlichkeiten einzelne Züge
angebracht, die nicht auf sie passen können, um sich nach allen Seiten hin sicher
zu stellen; er hat die hochgestellten Personen, auch wo er auf sie stichelt, mit
jener Schonung behandelt, die heut zu Tage unvermeidlich ist, die aber anch
jede ernste, große Ausfassung unmöglich macht. Durch diese Methode wird
einerseits die Geschichte entstellt, andererseits die Kunst, denn aus einzelnen
Anekdoten und Charakterzügen geht kein lebendiger Charakter hervor. Wo man
historische Persönlichkeiten künstlerisch nachschaffen will, muß mau, wie W. Scott,
aus vollem Holze schneiden dürfen.

Eine Geschichte der Revolution von 1848, mit genauer Berücksichtigung der
gesellschaftlichen Zustände, zu schreiben, wäre eine sehr dankbare Aufgabe, wenn
auch nicht gerade jetzt; aber an sehr ernsthafte, tragische und fratzenhafte Kolli¬
sionen, an deuen wir noch heute bis in unser innerstes Mark leiden, einen der
Wirklichkeit widersprechenden Roman anzuknüpfen, bei dem man vergebens nach
Absicht und Zweck fragt, ist doch wol ein eben so frevelhafter als ungeschickter
Einfall.

Dieser politische Inhalt des Romans ist folgender. Wir finden uns
ungefähr in den Zeiten des Ministeriums Hansemann; wenigstens wird das Mi¬
nisterium ein bürgerliches, vom Hof, wie von der Demokratie verachtetes ge¬
nannt. Freilich wollen manche von den geschilderten Zuständen nicht in diese
Zeit passen. Von der Existenz.einer Straßendemokratie ist nicht die Rede, in
allen Gesellschaften und Ständen ist vielmehr der Rcubund (Treubund) über¬
mächtig. Noch steht es aber so, daß eine opponirende Majorität in der National¬
versammlung die Regierung stürzen kann. Das Ministerium macht die Frage:
ob ein Minister das Recht hat, in der Kammer das Wort zu jeder Zeit zu er¬
greifen, zu einer Cabinetsfrage, bleibt mit einigen zwanzig Stimmen in der
Minorität und tritt in Folge dessen ab. Der König erhebt einen Fürsten Egon
von Hohenberg, den Sohn eines berühmten Feldmarschalls, zum Minister¬
präsidenten. Dieser geistreiche junge Mann hat einige Jahre in Paris als Tischler¬
geselle gelebt und von diesem Aufenthalt socialistisch-demokratische Grundsätze,
freilich mit stark aristokratisch-monarchischen Beigeschmack, mitgebracht. Er stimmte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/55>, abgerufen am 24.07.2024.