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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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seine politischen und ästhetischen Raisonnements, seine landschaftlichen Anschauun¬
gen u. dergl. anbringen, und da im gewöhnlichen Leben dergleichen auf einem
Spaziergange Alles zusammentreffen kann, so glaubt er, es sich auch im Roman
so bequem machen zu dürfen. Aber die Kunst hat andere Gesetze; in ihr muß jede
Stimmung, jede Anschanung-auch der unbeseelten Natur, jedes Gefühl und jedes
Raisonnement aus dem jedesmaligen geistigen Inhalt der Situation hervorgehen.
Unnützes Netardiren, auch wenn eS zu geistreichen Einfällen Gelegenheit giebt,
ermüdet, verstimmt und langweilt. In der Kunst des Netardirens ist aber Gutz-
kow wunderbar zu Hause. Nicht blos im Anfang des Romans, wo eine lang¬
same und zögernde Abwickelung der Handlung nothwendig ist, um die verschie¬
denen Verhältnisse und Charaktere, die uns beschäftigen sollen, deutlich zu macheu,
sondern bis zum Ende hin, wo man schon längst alle Geduld verloren hat.
Dagegen versteht er es eben so gut, da, wo mau eine genaue und gründliche
Entwickelung erwartet, die kühnsten Sprünge zu machen, und die erstaunlichsten
Veränderungen in den Charakteren und in den Situationen, über die wir Auf¬
klärung zu erwarten berechtigt sind, mit Stillschweigen zu übergehen. -- Wir
kommen aus alles dieses noch im Einzelnen zurück; zunächst suchen wir uns die
Anlage des Ganzen klar zu machen. --

Bei der Totalanschanung der Gegenwart darf natürlich die Politik nicht
fehlen. Politische Reflexionen und politische Ereignisse spielen eine große Rolle
im Roman. Wir müssen uns, um diese richtig zu würdigen, zuerst nach Ort
und Zeit umsehen.

Nach einigen vorläufigen, in Jean Paul'scher Manier gehaltenen Genre¬
bildern von fürstlichen Landschlössern und abgelegenen Hofhaltungen erfahren wir
bald, daß der preußische Hos der Mittelpunkt der Ereignisse ist. Gutzkow
führt eine Reihe von Persönlichkeiten ein, die sich, trotz ihrer leichten Maske,
augenblicklich als bekannte historische Größen ankündigen. So tritt der König
und die Königin auf, der Prinz von Preußen (als Prinz Ottokar), der General
Radowitz (General Voland von der Hahnenfeder), Prokesch-Osten (genannt
Rochus vom Westen), der Hofmaler Krüger, Kroll mit seinem Etablissement und
viele Andere. Das ist eine Manier, die in den letzten Jahren vielfach ange¬
wendet ist, die aber die strengste Rüge verdient. Theils will es sich der Dichter
bequem machen, indem er seine Unfähigkeit, plastische Gestalten zu zeichnen, hinter
alten bekannten Gemälden versteckt, die er mit leichter Mühe aus seine Wand
anklebt, theils will er auf die Neugierde des Publicums speculiren, das, wenn
es einmal ein bekanntes Gesicht entdeckt hat, sich nur bei jeder Maske den Kops
zerbricht, wer wol dahinter stecken möchte. Es erwartet geheime Aufschlüsse über
die Skandalgeschichte der Zeit, und wenn z. B. von einem Propst Gelbsattel,
der beim preußischen Hose gut accreditirt ist, oder von einer Geheimräthin
von Harder, die das ganze preußische Ministerium in ihrem Strickbeutel trägt,


seine politischen und ästhetischen Raisonnements, seine landschaftlichen Anschauun¬
gen u. dergl. anbringen, und da im gewöhnlichen Leben dergleichen auf einem
Spaziergange Alles zusammentreffen kann, so glaubt er, es sich auch im Roman
so bequem machen zu dürfen. Aber die Kunst hat andere Gesetze; in ihr muß jede
Stimmung, jede Anschanung-auch der unbeseelten Natur, jedes Gefühl und jedes
Raisonnement aus dem jedesmaligen geistigen Inhalt der Situation hervorgehen.
Unnützes Netardiren, auch wenn eS zu geistreichen Einfällen Gelegenheit giebt,
ermüdet, verstimmt und langweilt. In der Kunst des Netardirens ist aber Gutz-
kow wunderbar zu Hause. Nicht blos im Anfang des Romans, wo eine lang¬
same und zögernde Abwickelung der Handlung nothwendig ist, um die verschie¬
denen Verhältnisse und Charaktere, die uns beschäftigen sollen, deutlich zu macheu,
sondern bis zum Ende hin, wo man schon längst alle Geduld verloren hat.
Dagegen versteht er es eben so gut, da, wo mau eine genaue und gründliche
Entwickelung erwartet, die kühnsten Sprünge zu machen, und die erstaunlichsten
Veränderungen in den Charakteren und in den Situationen, über die wir Auf¬
klärung zu erwarten berechtigt sind, mit Stillschweigen zu übergehen. — Wir
kommen aus alles dieses noch im Einzelnen zurück; zunächst suchen wir uns die
Anlage des Ganzen klar zu machen. —

Bei der Totalanschanung der Gegenwart darf natürlich die Politik nicht
fehlen. Politische Reflexionen und politische Ereignisse spielen eine große Rolle
im Roman. Wir müssen uns, um diese richtig zu würdigen, zuerst nach Ort
und Zeit umsehen.

Nach einigen vorläufigen, in Jean Paul'scher Manier gehaltenen Genre¬
bildern von fürstlichen Landschlössern und abgelegenen Hofhaltungen erfahren wir
bald, daß der preußische Hos der Mittelpunkt der Ereignisse ist. Gutzkow
führt eine Reihe von Persönlichkeiten ein, die sich, trotz ihrer leichten Maske,
augenblicklich als bekannte historische Größen ankündigen. So tritt der König
und die Königin auf, der Prinz von Preußen (als Prinz Ottokar), der General
Radowitz (General Voland von der Hahnenfeder), Prokesch-Osten (genannt
Rochus vom Westen), der Hofmaler Krüger, Kroll mit seinem Etablissement und
viele Andere. Das ist eine Manier, die in den letzten Jahren vielfach ange¬
wendet ist, die aber die strengste Rüge verdient. Theils will es sich der Dichter
bequem machen, indem er seine Unfähigkeit, plastische Gestalten zu zeichnen, hinter
alten bekannten Gemälden versteckt, die er mit leichter Mühe aus seine Wand
anklebt, theils will er auf die Neugierde des Publicums speculiren, das, wenn
es einmal ein bekanntes Gesicht entdeckt hat, sich nur bei jeder Maske den Kops
zerbricht, wer wol dahinter stecken möchte. Es erwartet geheime Aufschlüsse über
die Skandalgeschichte der Zeit, und wenn z. B. von einem Propst Gelbsattel,
der beim preußischen Hose gut accreditirt ist, oder von einer Geheimräthin
von Harder, die das ganze preußische Ministerium in ihrem Strickbeutel trägt,


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[0054] seine politischen und ästhetischen Raisonnements, seine landschaftlichen Anschauun¬ gen u. dergl. anbringen, und da im gewöhnlichen Leben dergleichen auf einem Spaziergange Alles zusammentreffen kann, so glaubt er, es sich auch im Roman so bequem machen zu dürfen. Aber die Kunst hat andere Gesetze; in ihr muß jede Stimmung, jede Anschanung-auch der unbeseelten Natur, jedes Gefühl und jedes Raisonnement aus dem jedesmaligen geistigen Inhalt der Situation hervorgehen. Unnützes Netardiren, auch wenn eS zu geistreichen Einfällen Gelegenheit giebt, ermüdet, verstimmt und langweilt. In der Kunst des Netardirens ist aber Gutz- kow wunderbar zu Hause. Nicht blos im Anfang des Romans, wo eine lang¬ same und zögernde Abwickelung der Handlung nothwendig ist, um die verschie¬ denen Verhältnisse und Charaktere, die uns beschäftigen sollen, deutlich zu macheu, sondern bis zum Ende hin, wo man schon längst alle Geduld verloren hat. Dagegen versteht er es eben so gut, da, wo mau eine genaue und gründliche Entwickelung erwartet, die kühnsten Sprünge zu machen, und die erstaunlichsten Veränderungen in den Charakteren und in den Situationen, über die wir Auf¬ klärung zu erwarten berechtigt sind, mit Stillschweigen zu übergehen. — Wir kommen aus alles dieses noch im Einzelnen zurück; zunächst suchen wir uns die Anlage des Ganzen klar zu machen. — Bei der Totalanschanung der Gegenwart darf natürlich die Politik nicht fehlen. Politische Reflexionen und politische Ereignisse spielen eine große Rolle im Roman. Wir müssen uns, um diese richtig zu würdigen, zuerst nach Ort und Zeit umsehen. Nach einigen vorläufigen, in Jean Paul'scher Manier gehaltenen Genre¬ bildern von fürstlichen Landschlössern und abgelegenen Hofhaltungen erfahren wir bald, daß der preußische Hos der Mittelpunkt der Ereignisse ist. Gutzkow führt eine Reihe von Persönlichkeiten ein, die sich, trotz ihrer leichten Maske, augenblicklich als bekannte historische Größen ankündigen. So tritt der König und die Königin auf, der Prinz von Preußen (als Prinz Ottokar), der General Radowitz (General Voland von der Hahnenfeder), Prokesch-Osten (genannt Rochus vom Westen), der Hofmaler Krüger, Kroll mit seinem Etablissement und viele Andere. Das ist eine Manier, die in den letzten Jahren vielfach ange¬ wendet ist, die aber die strengste Rüge verdient. Theils will es sich der Dichter bequem machen, indem er seine Unfähigkeit, plastische Gestalten zu zeichnen, hinter alten bekannten Gemälden versteckt, die er mit leichter Mühe aus seine Wand anklebt, theils will er auf die Neugierde des Publicums speculiren, das, wenn es einmal ein bekanntes Gesicht entdeckt hat, sich nur bei jeder Maske den Kops zerbricht, wer wol dahinter stecken möchte. Es erwartet geheime Aufschlüsse über die Skandalgeschichte der Zeit, und wenn z. B. von einem Propst Gelbsattel, der beim preußischen Hose gut accreditirt ist, oder von einer Geheimräthin von Harder, die das ganze preußische Ministerium in ihrem Strickbeutel trägt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/54>, abgerufen am 24.07.2024.