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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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unter der Bedingung für möglich, daß man die bestimmten endlichen, concreten Er¬
scheinungen zu unbestimmten, physiognomielosen Allgemeinheiten verflüchtigt; daß
man die Individualitäten nach symbolischen Gesichtspunkten auseinanderreißt,
und die Ideen in unvollkommenen Trägern, in schlechten Individualitäten unter¬
gehen läßt. Die nachfolgende Exposition möge zeigen, ob wir uns in dieser Vor¬
aussetzung geirrt haben.

Um in die fast unübersehbare Masse der Figuren und Ereignisse einige Form
und Perspective zu bringen, hat Gutzkow die Hauptintriguen, aufweiche sich die
Aufmerksamkeit des Lesers concentriren soll, mit übertrieben starken Strichen an¬
gedeutet. Er mußte es thun, weil eine durch die verschiedensten Abwege zer¬
streute Aufmerksamkeit von Zeit zu Zeit einige recht derbe Paukenschläge verlangt,
um sich rege zu erhalten; aber er hätte es nicht nöthig gehabt, wenn er sich
in seinen Absichten beschränkt, oder wenigstens das vollständig Ueberflüssige aus¬
gemerzt hätte.

Gutzkow hat nicht das anmuthig naive, liebenswürdige Talent der gleich¬
zeitigen Romanschreiber, bei denen es auf die Komposition des Ganzen weniger
ankommt, weil sie uns für das, was sie unmittelbar bieten, hinlänglich interessiren,
ohne daß wir nöthig hätten, über die tiefere Bedeutung nachzudenken.

Dickens z. B. erzählt-uns in den Pickwickiern eine lange Geschichte ohne
alle Gliederung und sast ohne Zusammenhang, aber alles Einzelne ist so reizend
schön, daß wir diesen Mangel kaum fühlen, und trotz der großen Länge des
Werks betrübt sind, wenn es zu Ende ist. Er hat so viel unbefangene Freude
an dem, was er giebt, und so viel Grund zu dieser Freude; eine so wohlwollende
Natur, und ein so scharfes Auge für alle komischen und erhebenden Seiten des
Menschenlebens, eine solche Fülle des Gemüths und der Phantasie, daß wir mit
derselben Aufmerksamkeit lauschen, wie den Plaudereien eines naiven Erzählers,
der auch das Unbedeutende durch lebendige Natürlichkeit, warmes Gefühl und
gute Laune zu idealisiren versteht. -- Eine solche Befriedigung ist bei Gutzkow
nicht zu finden. Sein Talent ist durchaus analytisch, .nicht synthetisch; seine Ge¬
stalten gehen ihm nicht unmittelbar aus, mit jener innern" Nothwendigkeit, die
auch den ungläubigsten Kritiker sofort überzeugt, sondern er erfindet sie, nach
bestimmten Absichten oder nach zufälligen Eindrücken; er hat keine Liebe für sie,
denn sie haben keine Existenz für sich, sie sind nur dazu da, seinen eigenen Geist
zu zwecklosem Sprühfeier anzuregen, und noch ehe er sein mechanisches Kunststück
zu Ende gemacht hat, ist er schon beschäftigt, es wieder aufzulösen. Er fängt
die Darstellung eines Charakters mit der besten Intention an, aber kaum hat er
ihn einige Worte reden lassen, so reflectirt er schon über ihn, bringt ihn in Be¬
ziehung zu allgemeinen Fragen, hadert mit ihm, entschuldigt und lobt ihn, noch
ehe der Leser einiges Interesse, geschweige ein bestimmtes Bild von ihm gewonnen
hat. Jener Unglaube in Beziehung aus die allgemeinen Fragen des Lebens, der


unter der Bedingung für möglich, daß man die bestimmten endlichen, concreten Er¬
scheinungen zu unbestimmten, physiognomielosen Allgemeinheiten verflüchtigt; daß
man die Individualitäten nach symbolischen Gesichtspunkten auseinanderreißt,
und die Ideen in unvollkommenen Trägern, in schlechten Individualitäten unter¬
gehen läßt. Die nachfolgende Exposition möge zeigen, ob wir uns in dieser Vor¬
aussetzung geirrt haben.

Um in die fast unübersehbare Masse der Figuren und Ereignisse einige Form
und Perspective zu bringen, hat Gutzkow die Hauptintriguen, aufweiche sich die
Aufmerksamkeit des Lesers concentriren soll, mit übertrieben starken Strichen an¬
gedeutet. Er mußte es thun, weil eine durch die verschiedensten Abwege zer¬
streute Aufmerksamkeit von Zeit zu Zeit einige recht derbe Paukenschläge verlangt,
um sich rege zu erhalten; aber er hätte es nicht nöthig gehabt, wenn er sich
in seinen Absichten beschränkt, oder wenigstens das vollständig Ueberflüssige aus¬
gemerzt hätte.

Gutzkow hat nicht das anmuthig naive, liebenswürdige Talent der gleich¬
zeitigen Romanschreiber, bei denen es auf die Komposition des Ganzen weniger
ankommt, weil sie uns für das, was sie unmittelbar bieten, hinlänglich interessiren,
ohne daß wir nöthig hätten, über die tiefere Bedeutung nachzudenken.

Dickens z. B. erzählt-uns in den Pickwickiern eine lange Geschichte ohne
alle Gliederung und sast ohne Zusammenhang, aber alles Einzelne ist so reizend
schön, daß wir diesen Mangel kaum fühlen, und trotz der großen Länge des
Werks betrübt sind, wenn es zu Ende ist. Er hat so viel unbefangene Freude
an dem, was er giebt, und so viel Grund zu dieser Freude; eine so wohlwollende
Natur, und ein so scharfes Auge für alle komischen und erhebenden Seiten des
Menschenlebens, eine solche Fülle des Gemüths und der Phantasie, daß wir mit
derselben Aufmerksamkeit lauschen, wie den Plaudereien eines naiven Erzählers,
der auch das Unbedeutende durch lebendige Natürlichkeit, warmes Gefühl und
gute Laune zu idealisiren versteht. — Eine solche Befriedigung ist bei Gutzkow
nicht zu finden. Sein Talent ist durchaus analytisch, .nicht synthetisch; seine Ge¬
stalten gehen ihm nicht unmittelbar aus, mit jener innern" Nothwendigkeit, die
auch den ungläubigsten Kritiker sofort überzeugt, sondern er erfindet sie, nach
bestimmten Absichten oder nach zufälligen Eindrücken; er hat keine Liebe für sie,
denn sie haben keine Existenz für sich, sie sind nur dazu da, seinen eigenen Geist
zu zwecklosem Sprühfeier anzuregen, und noch ehe er sein mechanisches Kunststück
zu Ende gemacht hat, ist er schon beschäftigt, es wieder aufzulösen. Er fängt
die Darstellung eines Charakters mit der besten Intention an, aber kaum hat er
ihn einige Worte reden lassen, so reflectirt er schon über ihn, bringt ihn in Be¬
ziehung zu allgemeinen Fragen, hadert mit ihm, entschuldigt und lobt ihn, noch
ehe der Leser einiges Interesse, geschweige ein bestimmtes Bild von ihm gewonnen
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[0052] unter der Bedingung für möglich, daß man die bestimmten endlichen, concreten Er¬ scheinungen zu unbestimmten, physiognomielosen Allgemeinheiten verflüchtigt; daß man die Individualitäten nach symbolischen Gesichtspunkten auseinanderreißt, und die Ideen in unvollkommenen Trägern, in schlechten Individualitäten unter¬ gehen läßt. Die nachfolgende Exposition möge zeigen, ob wir uns in dieser Vor¬ aussetzung geirrt haben. Um in die fast unübersehbare Masse der Figuren und Ereignisse einige Form und Perspective zu bringen, hat Gutzkow die Hauptintriguen, aufweiche sich die Aufmerksamkeit des Lesers concentriren soll, mit übertrieben starken Strichen an¬ gedeutet. Er mußte es thun, weil eine durch die verschiedensten Abwege zer¬ streute Aufmerksamkeit von Zeit zu Zeit einige recht derbe Paukenschläge verlangt, um sich rege zu erhalten; aber er hätte es nicht nöthig gehabt, wenn er sich in seinen Absichten beschränkt, oder wenigstens das vollständig Ueberflüssige aus¬ gemerzt hätte. Gutzkow hat nicht das anmuthig naive, liebenswürdige Talent der gleich¬ zeitigen Romanschreiber, bei denen es auf die Komposition des Ganzen weniger ankommt, weil sie uns für das, was sie unmittelbar bieten, hinlänglich interessiren, ohne daß wir nöthig hätten, über die tiefere Bedeutung nachzudenken. Dickens z. B. erzählt-uns in den Pickwickiern eine lange Geschichte ohne alle Gliederung und sast ohne Zusammenhang, aber alles Einzelne ist so reizend schön, daß wir diesen Mangel kaum fühlen, und trotz der großen Länge des Werks betrübt sind, wenn es zu Ende ist. Er hat so viel unbefangene Freude an dem, was er giebt, und so viel Grund zu dieser Freude; eine so wohlwollende Natur, und ein so scharfes Auge für alle komischen und erhebenden Seiten des Menschenlebens, eine solche Fülle des Gemüths und der Phantasie, daß wir mit derselben Aufmerksamkeit lauschen, wie den Plaudereien eines naiven Erzählers, der auch das Unbedeutende durch lebendige Natürlichkeit, warmes Gefühl und gute Laune zu idealisiren versteht. — Eine solche Befriedigung ist bei Gutzkow nicht zu finden. Sein Talent ist durchaus analytisch, .nicht synthetisch; seine Ge¬ stalten gehen ihm nicht unmittelbar aus, mit jener innern" Nothwendigkeit, die auch den ungläubigsten Kritiker sofort überzeugt, sondern er erfindet sie, nach bestimmten Absichten oder nach zufälligen Eindrücken; er hat keine Liebe für sie, denn sie haben keine Existenz für sich, sie sind nur dazu da, seinen eigenen Geist zu zwecklosem Sprühfeier anzuregen, und noch ehe er sein mechanisches Kunststück zu Ende gemacht hat, ist er schon beschäftigt, es wieder aufzulösen. Er fängt die Darstellung eines Charakters mit der besten Intention an, aber kaum hat er ihn einige Worte reden lassen, so reflectirt er schon über ihn, bringt ihn in Be¬ ziehung zu allgemeinen Fragen, hadert mit ihm, entschuldigt und lobt ihn, noch ehe der Leser einiges Interesse, geschweige ein bestimmtes Bild von ihm gewonnen hat. Jener Unglaube in Beziehung aus die allgemeinen Fragen des Lebens, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/52>, abgerufen am 24.07.2024.