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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Die Ritter vom Geist.

Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Zweite Auflage. Leipzig, Brockhaus.

Ein Roman, dessen Umfang beinahe die Größe des Conversationslexicons
erreicht, scheint der Kritik unübersteigliche Hindernisse zu bieten. Schon die
Kunstform des Romans an sich ist weniger auf bestimmte Gesetze zurückzuführen,
als das Drama, weil die Wirkung des letzteren auf einen bestimmten Moment
berechnet sein muß, und daher eine strenge Oekonomie in den Mitteln, eine sichere
Technik, eine energische Konsequenz des Plans, eine vollkommene Durchsichtigkeit
der Charaktere erfordert, während der für die Lecture geschriebene Roman, mit
dem der Leser nach seiner Bequemlichkeit umgehen kann, eine größere Mannich-
faltigkeit und Freiheit verstattet. Wenn vollends der Umfang so groß ist, daß
mau nur mit einiger Mühe die verschiedenen Fäden im Gedächtniß behalten kann,
welche die Handlung mit einander verknüpfen, so sollte man meinen, daß eine
Form, für die man kein Maß finden kann, sich auch dem Urtheil entziehen müsse.

Allein die eigenthümliche Art, in der Gutzkow producirt, erleichtert der Kri¬
tik das Geschäft. Gutzkow ist ein Reflexions- und Vcrstandcsdichter, der nicht
von den Eindrücken der Thatsachen überwältigt oder von der Macht des Gefühls
fortgerissen wird, sondern überall mit sehr bewußten Intentionen an seine Arbeit
geht. Diese Intentionen kann man auffinden und an ihnen den Werth der
Ausführung prüfen.

Wir haben beim Erscheinen des ersten Bandes vorzugsweise auf die Vor¬
rede aufmerksam gemacht. Der marktschreierische Ton, den Gutzkow jedesmal
anstimme, sobald er sich auf ein neues Genre legt, weil er jedesmal die Ueber¬
zeugung hat, der Erfinder dieses Genre zu sein, ging in ihr so über alles Maß, '
daß er für das Kunstwerk das Schlimmste befürchten ließ. Gutzkow versprach
eine Totalauschanung von dem Ganzen des Menschengeschlechts zu geben, oder
wenigstens von den Fragen und Zerwürfnissen der Gegenwart in sämmtlichen
Gebieten des Denkens und des Lebeus. Wir hielten eine solche Totalanschauung
für einen Widerspruch gegen den Begriff der Kunst, und ihre Ausführung nur


Grenzboten. II. 1832. 6
Die Ritter vom Geist.

Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Zweite Auflage. Leipzig, Brockhaus.

Ein Roman, dessen Umfang beinahe die Größe des Conversationslexicons
erreicht, scheint der Kritik unübersteigliche Hindernisse zu bieten. Schon die
Kunstform des Romans an sich ist weniger auf bestimmte Gesetze zurückzuführen,
als das Drama, weil die Wirkung des letzteren auf einen bestimmten Moment
berechnet sein muß, und daher eine strenge Oekonomie in den Mitteln, eine sichere
Technik, eine energische Konsequenz des Plans, eine vollkommene Durchsichtigkeit
der Charaktere erfordert, während der für die Lecture geschriebene Roman, mit
dem der Leser nach seiner Bequemlichkeit umgehen kann, eine größere Mannich-
faltigkeit und Freiheit verstattet. Wenn vollends der Umfang so groß ist, daß
mau nur mit einiger Mühe die verschiedenen Fäden im Gedächtniß behalten kann,
welche die Handlung mit einander verknüpfen, so sollte man meinen, daß eine
Form, für die man kein Maß finden kann, sich auch dem Urtheil entziehen müsse.

Allein die eigenthümliche Art, in der Gutzkow producirt, erleichtert der Kri¬
tik das Geschäft. Gutzkow ist ein Reflexions- und Vcrstandcsdichter, der nicht
von den Eindrücken der Thatsachen überwältigt oder von der Macht des Gefühls
fortgerissen wird, sondern überall mit sehr bewußten Intentionen an seine Arbeit
geht. Diese Intentionen kann man auffinden und an ihnen den Werth der
Ausführung prüfen.

Wir haben beim Erscheinen des ersten Bandes vorzugsweise auf die Vor¬
rede aufmerksam gemacht. Der marktschreierische Ton, den Gutzkow jedesmal
anstimme, sobald er sich auf ein neues Genre legt, weil er jedesmal die Ueber¬
zeugung hat, der Erfinder dieses Genre zu sein, ging in ihr so über alles Maß, '
daß er für das Kunstwerk das Schlimmste befürchten ließ. Gutzkow versprach
eine Totalauschanung von dem Ganzen des Menschengeschlechts zu geben, oder
wenigstens von den Fragen und Zerwürfnissen der Gegenwart in sämmtlichen
Gebieten des Denkens und des Lebeus. Wir hielten eine solche Totalanschauung
für einen Widerspruch gegen den Begriff der Kunst, und ihre Ausführung nur


Grenzboten. II. 1832. 6
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[0051] Die Ritter vom Geist. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Zweite Auflage. Leipzig, Brockhaus. Ein Roman, dessen Umfang beinahe die Größe des Conversationslexicons erreicht, scheint der Kritik unübersteigliche Hindernisse zu bieten. Schon die Kunstform des Romans an sich ist weniger auf bestimmte Gesetze zurückzuführen, als das Drama, weil die Wirkung des letzteren auf einen bestimmten Moment berechnet sein muß, und daher eine strenge Oekonomie in den Mitteln, eine sichere Technik, eine energische Konsequenz des Plans, eine vollkommene Durchsichtigkeit der Charaktere erfordert, während der für die Lecture geschriebene Roman, mit dem der Leser nach seiner Bequemlichkeit umgehen kann, eine größere Mannich- faltigkeit und Freiheit verstattet. Wenn vollends der Umfang so groß ist, daß mau nur mit einiger Mühe die verschiedenen Fäden im Gedächtniß behalten kann, welche die Handlung mit einander verknüpfen, so sollte man meinen, daß eine Form, für die man kein Maß finden kann, sich auch dem Urtheil entziehen müsse. Allein die eigenthümliche Art, in der Gutzkow producirt, erleichtert der Kri¬ tik das Geschäft. Gutzkow ist ein Reflexions- und Vcrstandcsdichter, der nicht von den Eindrücken der Thatsachen überwältigt oder von der Macht des Gefühls fortgerissen wird, sondern überall mit sehr bewußten Intentionen an seine Arbeit geht. Diese Intentionen kann man auffinden und an ihnen den Werth der Ausführung prüfen. Wir haben beim Erscheinen des ersten Bandes vorzugsweise auf die Vor¬ rede aufmerksam gemacht. Der marktschreierische Ton, den Gutzkow jedesmal anstimme, sobald er sich auf ein neues Genre legt, weil er jedesmal die Ueber¬ zeugung hat, der Erfinder dieses Genre zu sein, ging in ihr so über alles Maß, ' daß er für das Kunstwerk das Schlimmste befürchten ließ. Gutzkow versprach eine Totalauschanung von dem Ganzen des Menschengeschlechts zu geben, oder wenigstens von den Fragen und Zerwürfnissen der Gegenwart in sämmtlichen Gebieten des Denkens und des Lebeus. Wir hielten eine solche Totalanschauung für einen Widerspruch gegen den Begriff der Kunst, und ihre Ausführung nur Grenzboten. II. 1832. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/51>, abgerufen am 24.07.2024.