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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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auch in ihrem Denken und Empfinden eine gewisse Unwahrheit, die zuweilen
peinlich wird. Man weiß niemals, wo die Phantasie und wo die Wirklichkeit
beginnt. Gerade in dieser Beziehung ist Goethe's Leben ein so vollkommenes
Muster. Durch die Natur und durch sein Glück in eine so günstige Sphäre des
Lebens erhoben, daß er als recht darstellen konnte, was er nur überhaupt wollte
und empfand, hat er doch stets das Maß und die Regel walten lassen, und ist
daher in seinen persönlichen Verhältnissen, was man auch über den häufigen
Wechsel derselben denken mag, keinen Augenblick unwahr gewesen. Die wahre
Idealität des Lebens wie der Poesie besteht darin, daß man in beiden Totalität
sucht. Bei Bettinen ist freilich die Trennung nicht von der Art, daß die poetische
Welt der gewöhnlichen vollständig entrückt wird, im Gegentheil läßt sie im
Sonnenstrahl der Poesie auch die gewöhnlichsten Lebensbeziehungen verklären, aber
dieser Sonnenstrahl fällt mit einer Gluth auf ihre Landschaften, die der Natur
derselben nicht angemessen ist, und die ihnen ein fremdartiges Aussehn giebt. Es
weht uns aus ihren Phantasten eine frische, lebendige Waldluft entgegen, und wir
werden sinnig und selbst gemüthlich angeregt; aber wir können uns daraus nie
etwas Ganzes componiren. Bettine ist niemals im Stande, uns eine Gestalt,
oder eine Begebenheit, eine Empfindung oder selbst einen Gedanken in scharfen,
bestimmten Umrissen zu zeichnen. Wir werden in einen träumerischen Zustand
versetzt, der, wenn wir sertig sind, nicht den geringsten Eindruck zurückläßt.
Darin ist ihr Rahel unendlich überlegen.

Dieser Mangel tritt um so fühlbarer hervor, da sehr häufig, wenn sie einen
Augenblick der Willkür ihrer Phantasie Schweigen gebietet, das edelste und wärmste
Gefühl, so wie der klarste, in das Wesen der Sache bringende Verstand sich
zeigt. Dieser Verstand hat auch Börne verführt, in ihrer Rücksichtslosigkeit eine
größere sittliche Kraft und ein reineres Gewissen zu suchen, als in Goethe's ma߬
voller Besonnenheit. Aber solche Ausbrüche der Empfindung dauern bei ihr nicht
lange. Sie fängt sehr bald wieder an zu spielen, zu tändeln, zu träumen, oder,
um den bestimmtem Ausdruck zu gebrauchen, zu coquettiren. Es ist das eine
Neigung, die in ihrer Familie erblich zu sein scheint. Bei ihrem Bruder Cle¬
mens Brentano haben wir die nämliche Empfindung, nur daß wir durch sein
größeres plastisches Talent noch mehr darauf aufmerksam gemacht werden, und
daß ihn die Phantasie, so wie die weit ausgedehnte Reflexion, in bedenklichere
Abwege treibt. Bei Bettine kann man noch sagen: den Reinen ist Alles rein,
bei Clemens aber wird die Unwahrheit zuweilen zur Lüge, die Schwärmerei zum
Aberglauben, das Traumwesen zur Unsittlichkeit.

Den besten und wol auch den richtigsten Eindruck macht jener Briefwechsel
auf uns, wenn wir das Thatsächliche, auf welches er sich bezieht, vollständig bei
Seite lassen und ihn als eine symbolische Darstellung der Empfindungen betrach¬
ten, mit welchen die leidenschaftlich bewegte Jugend unsrem großen Dichter gegen-


auch in ihrem Denken und Empfinden eine gewisse Unwahrheit, die zuweilen
peinlich wird. Man weiß niemals, wo die Phantasie und wo die Wirklichkeit
beginnt. Gerade in dieser Beziehung ist Goethe's Leben ein so vollkommenes
Muster. Durch die Natur und durch sein Glück in eine so günstige Sphäre des
Lebens erhoben, daß er als recht darstellen konnte, was er nur überhaupt wollte
und empfand, hat er doch stets das Maß und die Regel walten lassen, und ist
daher in seinen persönlichen Verhältnissen, was man auch über den häufigen
Wechsel derselben denken mag, keinen Augenblick unwahr gewesen. Die wahre
Idealität des Lebens wie der Poesie besteht darin, daß man in beiden Totalität
sucht. Bei Bettinen ist freilich die Trennung nicht von der Art, daß die poetische
Welt der gewöhnlichen vollständig entrückt wird, im Gegentheil läßt sie im
Sonnenstrahl der Poesie auch die gewöhnlichsten Lebensbeziehungen verklären, aber
dieser Sonnenstrahl fällt mit einer Gluth auf ihre Landschaften, die der Natur
derselben nicht angemessen ist, und die ihnen ein fremdartiges Aussehn giebt. Es
weht uns aus ihren Phantasten eine frische, lebendige Waldluft entgegen, und wir
werden sinnig und selbst gemüthlich angeregt; aber wir können uns daraus nie
etwas Ganzes componiren. Bettine ist niemals im Stande, uns eine Gestalt,
oder eine Begebenheit, eine Empfindung oder selbst einen Gedanken in scharfen,
bestimmten Umrissen zu zeichnen. Wir werden in einen träumerischen Zustand
versetzt, der, wenn wir sertig sind, nicht den geringsten Eindruck zurückläßt.
Darin ist ihr Rahel unendlich überlegen.

Dieser Mangel tritt um so fühlbarer hervor, da sehr häufig, wenn sie einen
Augenblick der Willkür ihrer Phantasie Schweigen gebietet, das edelste und wärmste
Gefühl, so wie der klarste, in das Wesen der Sache bringende Verstand sich
zeigt. Dieser Verstand hat auch Börne verführt, in ihrer Rücksichtslosigkeit eine
größere sittliche Kraft und ein reineres Gewissen zu suchen, als in Goethe's ma߬
voller Besonnenheit. Aber solche Ausbrüche der Empfindung dauern bei ihr nicht
lange. Sie fängt sehr bald wieder an zu spielen, zu tändeln, zu träumen, oder,
um den bestimmtem Ausdruck zu gebrauchen, zu coquettiren. Es ist das eine
Neigung, die in ihrer Familie erblich zu sein scheint. Bei ihrem Bruder Cle¬
mens Brentano haben wir die nämliche Empfindung, nur daß wir durch sein
größeres plastisches Talent noch mehr darauf aufmerksam gemacht werden, und
daß ihn die Phantasie, so wie die weit ausgedehnte Reflexion, in bedenklichere
Abwege treibt. Bei Bettine kann man noch sagen: den Reinen ist Alles rein,
bei Clemens aber wird die Unwahrheit zuweilen zur Lüge, die Schwärmerei zum
Aberglauben, das Traumwesen zur Unsittlichkeit.

Den besten und wol auch den richtigsten Eindruck macht jener Briefwechsel
auf uns, wenn wir das Thatsächliche, auf welches er sich bezieht, vollständig bei
Seite lassen und ihn als eine symbolische Darstellung der Empfindungen betrach¬
ten, mit welchen die leidenschaftlich bewegte Jugend unsrem großen Dichter gegen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/497>, abgerufen am 24.07.2024.