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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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duck der Zeit auszugeben. Einzelne wunderbare Umstände, die damit verknüpft
waren, so wie das Traum- und Phautasteleben, in dem sich Bcttiue beständig
bewegte, konnten eine solche Vermuthung wol aufkommen lassen, doch ist dieser
Verdacht wol nicht haltbar, wenigstens tragen Goethe's Briefe selbst in ihrem
Styl wie in ihrer sittlichen Haltung so entschieden das Gepräge der Echtheit,
daß Bettiue eine unbegreifliche dramatische Künstlerin hätte sein müssen, um
sie nachzuahmen, und wenn anch in den Briefen des Kindes manche Interpola¬
tionen im Sinn der spätern Zeit unbedingt angenommen werden müssen, so ist
doch kein Grund vorhanden, die wesentliche Entstehung derselben aus der Zeit,'
in die sie verlegt sind, zu streichen. Ganz anders ist es mit den Briefen der
Frau Rath, die gänzlich ans dem Charakter fallen.

Der Eindruck, den dieser Briefwechsel auf die gleichzeitigen Kritiker machte,
ist fast ebenso interessant als das Buch selbst. Am sonderbarsten war Börne's
Auffassung. Er glaubte, in Bettine Goethe's Racheengel zu erkennen, in welchem
die unterdrückte Stimme der Natur sich dem abgefallenen Weltmann drohend und
verwirrend vernehmlich machte, und sah in der gütigen Humanität, mit welcher der
alte Dichter das doch schon in den zwanziger Jahren stehende Kind theils gewähren
ließ, theils abwehrte, weiter Nichts, als die Furcht und das Grauen vor dem Ge¬
nius, dem der Dichter einst gedient und den er dann verrathen hatte. Jedes
gesunde Gefühl urtheilt anders. Es wird zwar ergriffen von der nicht gemeinen
Poesie, die sich selbst in den größten Extravaganzen Bettinens geltend macht,
aber es kann doch nicht umhin, ein gewisses Befremden über eine Denk- und
Empfindungsweise auszudrücken, die nicht blos den gewöhnlichen Vorstellungen
der Zeit, sondern allen Jdealenuviderspricht.

"Dies Buch ist für die Guten, und nicht für die Bösen," schrieb Bcttine
als Motto auf ihr Werk. Das hieß mit anderen Worten, für diejenigen, welche
den Traum von der Wirklichkeit, das innere Seelenleben von dem äußerlichen
Lebey zu unterscheiden vermögen. Eine rohe Vermischung dieser beiden Gegen¬
sätze würde freilich deu Inhalt des Buches in einem wunderlichen Licht erscheinen
lassen. Eine andere Frage ist aber, ob wir eine solche unbedingte Scheidelinie
ziehen dürfen.- Bettine ist in ihrem Wesen, in ihrem BeHaben wie ein ausge¬
lassenes Kind, sie wirst ihre Liebe wie ihre Abneigung den Leuten mit .der grö߬
ten Ungenirtheit an den Kopf" und doch ist sie. nicht blos in ihrem Lebensalter,
denn der Briefwechsel spielt 1807, und sie ist 1783 geboren, sondern vorzugs¬
weise in ihrer geistigen Bildung weit darüber hinaus, und so kommt es denn,
daß nach Umständen bald die eine, bald die andere Seite ihres Wesens hervor¬
gekehrt wird. Wenn sie sich in dem einen Augenblick als das geniale Kind be¬
trägt, aus das die gewöhnliche Sitte keine Anwendung finden kann, so nimmt sie
im anderen alle die Huldigungen in Anspruch, welche die Sitte als Recht der Da¬
men geheiligt hat. Dadurch entsteht nicht blos in ihrem äußern Leben, sondern


duck der Zeit auszugeben. Einzelne wunderbare Umstände, die damit verknüpft
waren, so wie das Traum- und Phautasteleben, in dem sich Bcttiue beständig
bewegte, konnten eine solche Vermuthung wol aufkommen lassen, doch ist dieser
Verdacht wol nicht haltbar, wenigstens tragen Goethe's Briefe selbst in ihrem
Styl wie in ihrer sittlichen Haltung so entschieden das Gepräge der Echtheit,
daß Bettiue eine unbegreifliche dramatische Künstlerin hätte sein müssen, um
sie nachzuahmen, und wenn anch in den Briefen des Kindes manche Interpola¬
tionen im Sinn der spätern Zeit unbedingt angenommen werden müssen, so ist
doch kein Grund vorhanden, die wesentliche Entstehung derselben aus der Zeit,'
in die sie verlegt sind, zu streichen. Ganz anders ist es mit den Briefen der
Frau Rath, die gänzlich ans dem Charakter fallen.

Der Eindruck, den dieser Briefwechsel auf die gleichzeitigen Kritiker machte,
ist fast ebenso interessant als das Buch selbst. Am sonderbarsten war Börne's
Auffassung. Er glaubte, in Bettine Goethe's Racheengel zu erkennen, in welchem
die unterdrückte Stimme der Natur sich dem abgefallenen Weltmann drohend und
verwirrend vernehmlich machte, und sah in der gütigen Humanität, mit welcher der
alte Dichter das doch schon in den zwanziger Jahren stehende Kind theils gewähren
ließ, theils abwehrte, weiter Nichts, als die Furcht und das Grauen vor dem Ge¬
nius, dem der Dichter einst gedient und den er dann verrathen hatte. Jedes
gesunde Gefühl urtheilt anders. Es wird zwar ergriffen von der nicht gemeinen
Poesie, die sich selbst in den größten Extravaganzen Bettinens geltend macht,
aber es kann doch nicht umhin, ein gewisses Befremden über eine Denk- und
Empfindungsweise auszudrücken, die nicht blos den gewöhnlichen Vorstellungen
der Zeit, sondern allen Jdealenuviderspricht.

„Dies Buch ist für die Guten, und nicht für die Bösen," schrieb Bcttine
als Motto auf ihr Werk. Das hieß mit anderen Worten, für diejenigen, welche
den Traum von der Wirklichkeit, das innere Seelenleben von dem äußerlichen
Lebey zu unterscheiden vermögen. Eine rohe Vermischung dieser beiden Gegen¬
sätze würde freilich deu Inhalt des Buches in einem wunderlichen Licht erscheinen
lassen. Eine andere Frage ist aber, ob wir eine solche unbedingte Scheidelinie
ziehen dürfen.- Bettine ist in ihrem Wesen, in ihrem BeHaben wie ein ausge¬
lassenes Kind, sie wirst ihre Liebe wie ihre Abneigung den Leuten mit .der grö߬
ten Ungenirtheit an den Kopf» und doch ist sie. nicht blos in ihrem Lebensalter,
denn der Briefwechsel spielt 1807, und sie ist 1783 geboren, sondern vorzugs¬
weise in ihrer geistigen Bildung weit darüber hinaus, und so kommt es denn,
daß nach Umständen bald die eine, bald die andere Seite ihres Wesens hervor¬
gekehrt wird. Wenn sie sich in dem einen Augenblick als das geniale Kind be¬
trägt, aus das die gewöhnliche Sitte keine Anwendung finden kann, so nimmt sie
im anderen alle die Huldigungen in Anspruch, welche die Sitte als Recht der Da¬
men geheiligt hat. Dadurch entsteht nicht blos in ihrem äußern Leben, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/496>, abgerufen am 24.07.2024.