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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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ein ungerechtes Vorurtheil der öffentlichen Meinung, das uns wieder in den Ernst
des wirklichen Lebens hineinwirft. Von der romantische" Vorstellung, die Kunst
um der Kunst willen zu treiben, hat Hawthorne keine Idee. -- In einer seiner
besten Novellen: "Das Schneebild" beginnen zwei Knaben aus eine anmuthige
Weise ans Schuee eine Gestalt zusammenzusetzen, die sich zu einer ganz wunder¬
baren Schönheit vollendet, endlich Leben und Bewegung annimmt, und als lie¬
benswürdiges Mädchen mit den Kindern spielt. Der Bater derselben kommt
hinzu, und als eingefleischter Nützlichkeitsmensch ist er davon überzeugt, daß das
arme Mädchen in seinem lustigen Auszüge'frieren müsse/ Er bringt es. also trotz
seines Sträubens in eine starkgeheizte Stube, schließt es daselbst ein, und ist nicht
wenig überrascht, als er nach einiger Zeit von dem armen Schneebild Nichts
weiter antrifft, als etwas Wasser ans dem Boden. Die Moral kommt dann
nach: Man soll sich hüten, mit den rauhen Händen des Alltagslebens die zarten
Schwingen einer fein organisirten Psyche zu verletzen. -- Eine andere Erzählung:
"Der schwarze Schleier des Geistlichen" behandelt den sonderbaren Ein¬
fall eines Mannes, auf der Straße, in der Gesellschaft, wie zu Hause stets einen
Schleier zu tragen, der alle Menschen erschreckt und selbst seine Frau ihm ent¬
fremdet. Auf dem Todbette verallgemeinert er wieder diesen grillenhafter Ein¬
fall, indem er behauptet, eigentlich trügen alle Menschen eine solche Hülle. Der
beste Freund würde sich entsetzen, wenn er einen Blick in die innerste Tiefe der
Seele seines Freundes thun könnte. -- "Das Muttermaal" handelt von dem
Egoismus der wissenschaftlichen und künstlerischen Anschauung. Ein Gelehrter
bietet alle Mittel seiner Wissenschaft auf, um ein Muttermaal seiner Fran, wel¬
ches seinen Sinn für Harmonie beleidigt und ihn beständig verwirrt, wegzuschaffen,
und da ihm das uicht gelingt, so versetzt ihn dieser kleine Mangel an Harmonie
in eine so fürchterliche Unruhe, daß er zum leidenschaftlichen Haß gegen sein
armes treues Weib getrieben wird. Die Erfindung wäre Balzac's würdig.. --
In "Wakefield" ist ein Spießbürger gezeichnet, der im Stillen die Sehnsucht
nährt, etwas recht Auffallendes zu thun. Er führt es endlich aus, indem er
seinem Weibe davon läuft und sich vor allen Menschen versteckt, bis ihn endlich
einmal bei starker Kälte der Anblick seines flammenden Kaminfeuers wieder zur
Vernunft bringt, -- In allen diesen und' anderen Erzählungen ist das Charakte¬
ristische die Darstellung sinniger und interessanter Naturen, die aber an einem
organischen Fehler leiden. Es ist das eine leidenschaftliche Reaction gegen die
eigentlichen Grundzüge des amerikanischen Charakters,, gegen den Geist der puri¬
tanische" Selbstgerechtigkeit und gegen den industriellen Materialismus und Egois¬
mus. Der Dichter selber hat ein klares Bewußtsein darüber, daß seine Schriften
nur als Resultate eines nicht ganz gesunden Denkens und Empfindens zu be¬
trachten sind. "Sie sind," sagt er einmal, "die leidenschaftlichen Anstrengungen
eines Einsamen, sich mit der äußern Welt in Rapport zu setzen; sie haben die


ein ungerechtes Vorurtheil der öffentlichen Meinung, das uns wieder in den Ernst
des wirklichen Lebens hineinwirft. Von der romantische» Vorstellung, die Kunst
um der Kunst willen zu treiben, hat Hawthorne keine Idee. — In einer seiner
besten Novellen: „Das Schneebild" beginnen zwei Knaben aus eine anmuthige
Weise ans Schuee eine Gestalt zusammenzusetzen, die sich zu einer ganz wunder¬
baren Schönheit vollendet, endlich Leben und Bewegung annimmt, und als lie¬
benswürdiges Mädchen mit den Kindern spielt. Der Bater derselben kommt
hinzu, und als eingefleischter Nützlichkeitsmensch ist er davon überzeugt, daß das
arme Mädchen in seinem lustigen Auszüge'frieren müsse/ Er bringt es. also trotz
seines Sträubens in eine starkgeheizte Stube, schließt es daselbst ein, und ist nicht
wenig überrascht, als er nach einiger Zeit von dem armen Schneebild Nichts
weiter antrifft, als etwas Wasser ans dem Boden. Die Moral kommt dann
nach: Man soll sich hüten, mit den rauhen Händen des Alltagslebens die zarten
Schwingen einer fein organisirten Psyche zu verletzen. — Eine andere Erzählung:
„Der schwarze Schleier des Geistlichen" behandelt den sonderbaren Ein¬
fall eines Mannes, auf der Straße, in der Gesellschaft, wie zu Hause stets einen
Schleier zu tragen, der alle Menschen erschreckt und selbst seine Frau ihm ent¬
fremdet. Auf dem Todbette verallgemeinert er wieder diesen grillenhafter Ein¬
fall, indem er behauptet, eigentlich trügen alle Menschen eine solche Hülle. Der
beste Freund würde sich entsetzen, wenn er einen Blick in die innerste Tiefe der
Seele seines Freundes thun könnte. — „Das Muttermaal" handelt von dem
Egoismus der wissenschaftlichen und künstlerischen Anschauung. Ein Gelehrter
bietet alle Mittel seiner Wissenschaft auf, um ein Muttermaal seiner Fran, wel¬
ches seinen Sinn für Harmonie beleidigt und ihn beständig verwirrt, wegzuschaffen,
und da ihm das uicht gelingt, so versetzt ihn dieser kleine Mangel an Harmonie
in eine so fürchterliche Unruhe, daß er zum leidenschaftlichen Haß gegen sein
armes treues Weib getrieben wird. Die Erfindung wäre Balzac's würdig.. —
In „Wakefield" ist ein Spießbürger gezeichnet, der im Stillen die Sehnsucht
nährt, etwas recht Auffallendes zu thun. Er führt es endlich aus, indem er
seinem Weibe davon läuft und sich vor allen Menschen versteckt, bis ihn endlich
einmal bei starker Kälte der Anblick seines flammenden Kaminfeuers wieder zur
Vernunft bringt, — In allen diesen und' anderen Erzählungen ist das Charakte¬
ristische die Darstellung sinniger und interessanter Naturen, die aber an einem
organischen Fehler leiden. Es ist das eine leidenschaftliche Reaction gegen die
eigentlichen Grundzüge des amerikanischen Charakters,, gegen den Geist der puri¬
tanische» Selbstgerechtigkeit und gegen den industriellen Materialismus und Egois¬
mus. Der Dichter selber hat ein klares Bewußtsein darüber, daß seine Schriften
nur als Resultate eines nicht ganz gesunden Denkens und Empfindens zu be¬
trachten sind. „Sie sind," sagt er einmal, „die leidenschaftlichen Anstrengungen
eines Einsamen, sich mit der äußern Welt in Rapport zu setzen; sie haben die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/442>, abgerufen am 30.06.2024.