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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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um sich und ihren unglücklichen Bruder, der durch Erduldung einer langen un¬
gerechten Kerkerhaft halb blödsinnig geworden ist, zu ernähren, einen kleinen
Kramladen eröffnen muß. Die Schmerzen dieses für ein aristokratisches Herz
so schweren Entschlusses sind mit einer wunderbaren Anschaulichkeit nud Wahr¬
heit dargestellt. Das alte Hans in seinem Verfall wird dnrch eine lebendige,
an die Arnim'sche Manier erinnernde Zeichnung individualisirt und belebt, und
gewinnt durch ein junges, unbefangenes Mädchen, welches der alten Tante
Heph^iba an die Hand gehen muß, auch einen Schimmer von Poesie. Diesen
gebrochenen und leidenden Charakteren gegenüber zeichnet sich der harte, gewissen¬
lose, egoistische Richter Pyncheon, der wahre Erbe seines Stammes, in scharfen
und sicheren Umrissen ab. Einzelne Scenen, z. B. der plötzliche Tod des Richters
am Schlagfluß und die Erschütterung, die derselbe auf das Gemüth der bisher
von ihm verfolgten Familie ausübt, wären des größten Dichters würdig. Bei
all diesen Vorzügen macht der Roman im Ganzen doch keine gute Wirkung auf
uns. Er hinterläßt eine trübe Stimmung, die uicht sowol von den traurigen
Ereignissen herrührt, als von der Unklarheit über die Ideale des Dichters. Es
ist ein solches Raffinement in der Zerlegung der Motive und der verschiedenen
Bestimmungen, aus denen ein Charakter hervorgeht, daß darunter die Realität
der Charaktere leidet. Es fehlt jene Unbefangenheit und Sicherheit der An¬
schauung, die für eine' wirkliche Gestaltungskraft unerläßlich ist. Das Leben
verliert sich in Erscheinungen und Visionen, bei denen nicht deutlich wird,
was dem Traume, was dem Wachen angehört. Der Dichter hat den Instinct
des Guten, aber nicht den Glauben daran, nud sein Humor hilft uns darüber
nicht hinweg, denn auch er hat etwas Befangenes; aber es ist viel Geist in die¬
sen mystischen Irrfahrten aufgewendet, und unsre Phantasie und unser Gemüth
wird beschäftigt, wenn auch uicht befriedigt.

In den kleinen Erzählungen tritt gewöhnlich die Tendenz schärfer hervor.
Der-Dichter stellt sich die wunderbarsten, subtilsten Probleme, die in ihrer Subti-
lität an Matnrin und Balzac erinnern, aber zugleich -hat er ein sehr scharfes Auge
für auffallende Erscheinungen der sinnlichen Welt, und so tritt seine Neigung,
' zu verallgemeinern und zu reflectiren, mit der Lebhaftigkeit seiner sinnlichen Ein¬
drücke in ein sonderbares Verhältniß. Er versteht es, den wunderlichsten Details,
die ihm ausstoßen, einen geheimen, tiefern Sinn unterzulegen, der jedem Andern
entgehen würde, und der allerdings zuweilen etwas gewaltsam herbeigezogen wird.
Auch bei rein phantastischen Erfindungen, die zuweilen einen ganz tollen Uebermuth
verrathen, muß immer zuletzt eine allgemeine sehr ernsthafte Moral hervortreten.
Bei den einfachsten Kindermärchen, wenn wir uns unbefangen an dem Spiel
der Phantasie ergötzen, verwandelt sich plötzlich die Phusioguvmie dieser träume¬
rischen Elfenwelt, und ein ernsthaftes, altkluges, trauriges Auge schaut uns viel¬
sagend an, nud zeigt uns irgend einen verborgenen Fehler unsrer Natur, irgend


um sich und ihren unglücklichen Bruder, der durch Erduldung einer langen un¬
gerechten Kerkerhaft halb blödsinnig geworden ist, zu ernähren, einen kleinen
Kramladen eröffnen muß. Die Schmerzen dieses für ein aristokratisches Herz
so schweren Entschlusses sind mit einer wunderbaren Anschaulichkeit nud Wahr¬
heit dargestellt. Das alte Hans in seinem Verfall wird dnrch eine lebendige,
an die Arnim'sche Manier erinnernde Zeichnung individualisirt und belebt, und
gewinnt durch ein junges, unbefangenes Mädchen, welches der alten Tante
Heph^iba an die Hand gehen muß, auch einen Schimmer von Poesie. Diesen
gebrochenen und leidenden Charakteren gegenüber zeichnet sich der harte, gewissen¬
lose, egoistische Richter Pyncheon, der wahre Erbe seines Stammes, in scharfen
und sicheren Umrissen ab. Einzelne Scenen, z. B. der plötzliche Tod des Richters
am Schlagfluß und die Erschütterung, die derselbe auf das Gemüth der bisher
von ihm verfolgten Familie ausübt, wären des größten Dichters würdig. Bei
all diesen Vorzügen macht der Roman im Ganzen doch keine gute Wirkung auf
uns. Er hinterläßt eine trübe Stimmung, die uicht sowol von den traurigen
Ereignissen herrührt, als von der Unklarheit über die Ideale des Dichters. Es
ist ein solches Raffinement in der Zerlegung der Motive und der verschiedenen
Bestimmungen, aus denen ein Charakter hervorgeht, daß darunter die Realität
der Charaktere leidet. Es fehlt jene Unbefangenheit und Sicherheit der An¬
schauung, die für eine' wirkliche Gestaltungskraft unerläßlich ist. Das Leben
verliert sich in Erscheinungen und Visionen, bei denen nicht deutlich wird,
was dem Traume, was dem Wachen angehört. Der Dichter hat den Instinct
des Guten, aber nicht den Glauben daran, nud sein Humor hilft uns darüber
nicht hinweg, denn auch er hat etwas Befangenes; aber es ist viel Geist in die¬
sen mystischen Irrfahrten aufgewendet, und unsre Phantasie und unser Gemüth
wird beschäftigt, wenn auch uicht befriedigt.

In den kleinen Erzählungen tritt gewöhnlich die Tendenz schärfer hervor.
Der-Dichter stellt sich die wunderbarsten, subtilsten Probleme, die in ihrer Subti-
lität an Matnrin und Balzac erinnern, aber zugleich -hat er ein sehr scharfes Auge
für auffallende Erscheinungen der sinnlichen Welt, und so tritt seine Neigung,
' zu verallgemeinern und zu reflectiren, mit der Lebhaftigkeit seiner sinnlichen Ein¬
drücke in ein sonderbares Verhältniß. Er versteht es, den wunderlichsten Details,
die ihm ausstoßen, einen geheimen, tiefern Sinn unterzulegen, der jedem Andern
entgehen würde, und der allerdings zuweilen etwas gewaltsam herbeigezogen wird.
Auch bei rein phantastischen Erfindungen, die zuweilen einen ganz tollen Uebermuth
verrathen, muß immer zuletzt eine allgemeine sehr ernsthafte Moral hervortreten.
Bei den einfachsten Kindermärchen, wenn wir uns unbefangen an dem Spiel
der Phantasie ergötzen, verwandelt sich plötzlich die Phusioguvmie dieser träume¬
rischen Elfenwelt, und ein ernsthaftes, altkluges, trauriges Auge schaut uns viel¬
sagend an, nud zeigt uns irgend einen verborgenen Fehler unsrer Natur, irgend


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[0441] um sich und ihren unglücklichen Bruder, der durch Erduldung einer langen un¬ gerechten Kerkerhaft halb blödsinnig geworden ist, zu ernähren, einen kleinen Kramladen eröffnen muß. Die Schmerzen dieses für ein aristokratisches Herz so schweren Entschlusses sind mit einer wunderbaren Anschaulichkeit nud Wahr¬ heit dargestellt. Das alte Hans in seinem Verfall wird dnrch eine lebendige, an die Arnim'sche Manier erinnernde Zeichnung individualisirt und belebt, und gewinnt durch ein junges, unbefangenes Mädchen, welches der alten Tante Heph^iba an die Hand gehen muß, auch einen Schimmer von Poesie. Diesen gebrochenen und leidenden Charakteren gegenüber zeichnet sich der harte, gewissen¬ lose, egoistische Richter Pyncheon, der wahre Erbe seines Stammes, in scharfen und sicheren Umrissen ab. Einzelne Scenen, z. B. der plötzliche Tod des Richters am Schlagfluß und die Erschütterung, die derselbe auf das Gemüth der bisher von ihm verfolgten Familie ausübt, wären des größten Dichters würdig. Bei all diesen Vorzügen macht der Roman im Ganzen doch keine gute Wirkung auf uns. Er hinterläßt eine trübe Stimmung, die uicht sowol von den traurigen Ereignissen herrührt, als von der Unklarheit über die Ideale des Dichters. Es ist ein solches Raffinement in der Zerlegung der Motive und der verschiedenen Bestimmungen, aus denen ein Charakter hervorgeht, daß darunter die Realität der Charaktere leidet. Es fehlt jene Unbefangenheit und Sicherheit der An¬ schauung, die für eine' wirkliche Gestaltungskraft unerläßlich ist. Das Leben verliert sich in Erscheinungen und Visionen, bei denen nicht deutlich wird, was dem Traume, was dem Wachen angehört. Der Dichter hat den Instinct des Guten, aber nicht den Glauben daran, nud sein Humor hilft uns darüber nicht hinweg, denn auch er hat etwas Befangenes; aber es ist viel Geist in die¬ sen mystischen Irrfahrten aufgewendet, und unsre Phantasie und unser Gemüth wird beschäftigt, wenn auch uicht befriedigt. In den kleinen Erzählungen tritt gewöhnlich die Tendenz schärfer hervor. Der-Dichter stellt sich die wunderbarsten, subtilsten Probleme, die in ihrer Subti- lität an Matnrin und Balzac erinnern, aber zugleich -hat er ein sehr scharfes Auge für auffallende Erscheinungen der sinnlichen Welt, und so tritt seine Neigung, ' zu verallgemeinern und zu reflectiren, mit der Lebhaftigkeit seiner sinnlichen Ein¬ drücke in ein sonderbares Verhältniß. Er versteht es, den wunderlichsten Details, die ihm ausstoßen, einen geheimen, tiefern Sinn unterzulegen, der jedem Andern entgehen würde, und der allerdings zuweilen etwas gewaltsam herbeigezogen wird. Auch bei rein phantastischen Erfindungen, die zuweilen einen ganz tollen Uebermuth verrathen, muß immer zuletzt eine allgemeine sehr ernsthafte Moral hervortreten. Bei den einfachsten Kindermärchen, wenn wir uns unbefangen an dem Spiel der Phantasie ergötzen, verwandelt sich plötzlich die Phusioguvmie dieser träume¬ rischen Elfenwelt, und ein ernsthaftes, altkluges, trauriges Auge schaut uns viel¬ sagend an, nud zeigt uns irgend einen verborgenen Fehler unsrer Natur, irgend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/441>, abgerufen am 27.06.2024.