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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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prächtige, im besten niederländischen Styl ausgeführte Schildenina, der Zeit, die
man ähnlichen Schilderungen W. Scott's an die Seite setzen darf.

Die günstige Aufnahme, welche der "Scharlachbuchstabe" in England fand,
beweist den Fortschritt, den der Liberalismus in der öffentlichen Meinung
gemacht hat. Der Inhalt berührt die bedenklichsten Fragen der öffent¬
lichen Sittlichkeit, an die sich früher selbst die kühnsten Romantiker nicht gewagt
hatten, "ut wenn auch die Behandlung eine durchaus moralische ist, so unter¬
scheidet sich diese Moral doch sehr wesentlich von jenem Katechismus der Recht-
gläubigkeit, welcher mit dem Wesen der Sache so vollkommen fertig war, daß
er sich damit begnügen konnte, die einzelnen Fälle juristisch unter die Regel zu
subsumiren. Diese Strenge und Sicherheit des Urtheils hört auf, sobald man
die moralischen Ideen selbst der Prüfung unterzieht. Schon die Milde des Ur¬
theils ist ein bedenkliches.Zeichen, denn sie ist ihrer Sache nicht mehr sicher.

In dem zweiten, größer" Roman: "Das Haus mit sieben Giebeln"
tritt die leitende sittliche Idee nicht so hervor. Der Inhalt der Novelle ist die
Erbfeindschaft zwischen zwei Häusern, einem patricischen und einem plebejischen,
den Pyncheons und den Maules. Die hervorragenden Charaktere der ersten
sind sämmtlich harte, stolze, egoistisch-aristokratische Naturen, die den öffentlichen
Anforderungen der Religion und Sittlichkeit vollkommen Genüge thun, aber
unter diesem äußern Deckmantel eine Herzlosigkeit verbergen, die alle Verhält¬
nisse mit Menschen zu bloßen Mitteln herabsetzt. Die Maules dagegen sind
wilde, mit dem Gesetz und der Sitte zerfallene Individualitäten, die zunächst für
sich eine unbedingte Freiheit in den sittlichen Vorstellungen beanspruchen und
dann nicht abgeneigt sind, diese Freiheit demagogisch auch für die Menge zu
erobern. Die erste Grundlage der Feindschaft ist ein Proceß, der zu Gunsten
der Pyncheons entschieden wird, an denen aber die Maules Rache nehmen, lu¬
den? sie ein Document unterschlagen, durch welches deu Pyncheons fürstliche Be-
sitzthümer zu Theil werden sollten. Die Fehde geht mehrere Generationen hin¬
durch fort, bis endlich sämmtliche Pyncheons aussterben, und die letzte Erbin des
Hauses sich mit dem letzten Maule vermählt. Zu derselben Zeit wird anch das
Document aufgefunden, hinter dem Bilde des Ahnherrn der Pyncheons versteckt,
welches Bild gewissermaßen den Nahmen der Geschichte bildet. Aber es.hat
keinen Werth mehr. Die Rechtsverhältnisse haben sich vollständig geändert, und
der Besitzer des Papiers kcnui aus demselben keine Ansprüche mehr herleiten. --
Diese romantische Familienfeste enthält zwar einige interessante Züge, spielt aber
im Allgemeinen doch zu sehr ins Gebiet der gewöhnlichen Novellistik hinein, um
an sich als bedeutend betrachtet werden zu können. Dagegen ist die Schilderung
von deu Zuständen, die mit dem Verfall des Hauses Pyncheon verknüpft sind,
ein poetisches Meisterstück. Das alte Haus,> welches zur Zeit seines Entstehens
so großes Aussehn erregte, ist nun im Besitz eines armen alten Fräuleins, die,


prächtige, im besten niederländischen Styl ausgeführte Schildenina, der Zeit, die
man ähnlichen Schilderungen W. Scott's an die Seite setzen darf.

Die günstige Aufnahme, welche der „Scharlachbuchstabe" in England fand,
beweist den Fortschritt, den der Liberalismus in der öffentlichen Meinung
gemacht hat. Der Inhalt berührt die bedenklichsten Fragen der öffent¬
lichen Sittlichkeit, an die sich früher selbst die kühnsten Romantiker nicht gewagt
hatten, »ut wenn auch die Behandlung eine durchaus moralische ist, so unter¬
scheidet sich diese Moral doch sehr wesentlich von jenem Katechismus der Recht-
gläubigkeit, welcher mit dem Wesen der Sache so vollkommen fertig war, daß
er sich damit begnügen konnte, die einzelnen Fälle juristisch unter die Regel zu
subsumiren. Diese Strenge und Sicherheit des Urtheils hört auf, sobald man
die moralischen Ideen selbst der Prüfung unterzieht. Schon die Milde des Ur¬
theils ist ein bedenkliches.Zeichen, denn sie ist ihrer Sache nicht mehr sicher.

In dem zweiten, größer» Roman: „Das Haus mit sieben Giebeln"
tritt die leitende sittliche Idee nicht so hervor. Der Inhalt der Novelle ist die
Erbfeindschaft zwischen zwei Häusern, einem patricischen und einem plebejischen,
den Pyncheons und den Maules. Die hervorragenden Charaktere der ersten
sind sämmtlich harte, stolze, egoistisch-aristokratische Naturen, die den öffentlichen
Anforderungen der Religion und Sittlichkeit vollkommen Genüge thun, aber
unter diesem äußern Deckmantel eine Herzlosigkeit verbergen, die alle Verhält¬
nisse mit Menschen zu bloßen Mitteln herabsetzt. Die Maules dagegen sind
wilde, mit dem Gesetz und der Sitte zerfallene Individualitäten, die zunächst für
sich eine unbedingte Freiheit in den sittlichen Vorstellungen beanspruchen und
dann nicht abgeneigt sind, diese Freiheit demagogisch auch für die Menge zu
erobern. Die erste Grundlage der Feindschaft ist ein Proceß, der zu Gunsten
der Pyncheons entschieden wird, an denen aber die Maules Rache nehmen, lu¬
den? sie ein Document unterschlagen, durch welches deu Pyncheons fürstliche Be-
sitzthümer zu Theil werden sollten. Die Fehde geht mehrere Generationen hin¬
durch fort, bis endlich sämmtliche Pyncheons aussterben, und die letzte Erbin des
Hauses sich mit dem letzten Maule vermählt. Zu derselben Zeit wird anch das
Document aufgefunden, hinter dem Bilde des Ahnherrn der Pyncheons versteckt,
welches Bild gewissermaßen den Nahmen der Geschichte bildet. Aber es.hat
keinen Werth mehr. Die Rechtsverhältnisse haben sich vollständig geändert, und
der Besitzer des Papiers kcnui aus demselben keine Ansprüche mehr herleiten. —
Diese romantische Familienfeste enthält zwar einige interessante Züge, spielt aber
im Allgemeinen doch zu sehr ins Gebiet der gewöhnlichen Novellistik hinein, um
an sich als bedeutend betrachtet werden zu können. Dagegen ist die Schilderung
von deu Zuständen, die mit dem Verfall des Hauses Pyncheon verknüpft sind,
ein poetisches Meisterstück. Das alte Haus,> welches zur Zeit seines Entstehens
so großes Aussehn erregte, ist nun im Besitz eines armen alten Fräuleins, die,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/440>, abgerufen am 22.06.2024.