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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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über die traditionelle Politik verfochten hätte. Statt dessen experimentirte man,
dnrch das Studium Montesauien's entnervt, mit einer preußischen Pairie, die
vollends ohne alleu Boden war. -- Auf diese alten Formen zurückzugeben, ist
darum nicht möglich, weil man damit auch die alten Mißbräuche und die ganze
Unbehilflichkeit des ständischen Mechanismus wieder einfuhren müßte. Wohl aber
sind wir überzeugt, daß erst, wenn die Grundlage der Kreisverfassung sicher
festgestellt, und wenn der Kreisdeputirtc in der Lage sein wird, in seiner Hei¬
math einen realen Einfluß auszuüben, das Verhältniß zwischen Krone und Kam¬
mern eine bestimmte Physiognomie annehmen kann. Bis dahin werden unsre
Zustände immer provisorisch bleiben..

Drittens. Der preußische Staat ist seiner ganzen Lage nach von der
Art, daß die Durchführung des constitutionellen Systems bei ihm größere
Schwierigkeiten macht, als anderwärts. Er ist als deutscher Bundesstaat nicht
unbedingt souverain, und er ist in der Nothwendigkeit, seine militärischen Kräfte
in einem außergewöhnliche" Verhältniß zu entwickeln. Er repräsentirt nicht
ein natürliches geschlossenes Ganze, sondern eine Individualität, die erst im Be¬
griff ist, allmählich zu sich selbst zu kommen. Man darf es daher mit seiner ersten
Entwickelung nicht zu streng nehmen, und die Probe, ob er lebensfähig ist oder
nicht, nicht zu früh für abgeschlossen erachten.

Fassen wir alle diese Punkte zusammen, so ergiebt sich die Schwierigkeit de,s
preußischen Constitutionalismus sehr leicht. Die Krone ist den Kammern abge¬
neigt, und sie ist der stärkere Theil, denn sie disponirt über ein schlagfertiges
Heer und über eine im Ganzen wohlgeschnlte Bureaukratie, während die Kam¬
mern den Boden, auf deu sie sich stützen sollen, erst noch suchen. Es ist daher
vorauszusehen, daß wir noch längere Zeit, als wünschenswerth ist, das Schau¬
spiel mit ansehen müssen, wie die Kammern sich mit dem besten Willen abmühen,
und zuletzt doch Alles der Entscheidung der Krone anheim fällt. Wenn wir trotz¬
dem uns als entschiedene Anhänger des constitutionellen Systems für Preußen
erklären müssen, und das Aufgeben dieses Systems sür das größte Unglück halten
würden, so haben wir dazu folgende Gründe.

Erstens. Wir halten den specifisch preußischen Patriotismus sür das un¬
entbehrlichste Moment einer künftigen Wiedergeburt Deutschlands. Wir glauben,
daß sich nur aus ihm heraus ein künftiger deutscher Staat entwickeln kann, vor¬
ausgesetzt, daß er sich selber so weit cultivirt, um überhaupt das Recht einer
historischen Entwickelung in Anspruch nehmen zu dürfen. Nun beruhte bis jetzt
der preußische Patriotismus wesentlich ans unsrem Militair, und bestimmter ge¬
sagt, auf den Traditionen vom alten Fritz. Wir wollen auch diese Traditionen
hegen und pflegen, aber wir müssen behaupten, daß sie allein nicht mehr aus¬
reichen. Die Verhältnisse sind jetzt anders geworden, als zu den Zeiten des
siebenjährigen Krieges, und eine Armee, die keine Gelegenheit hat, sich in


über die traditionelle Politik verfochten hätte. Statt dessen experimentirte man,
dnrch das Studium Montesauien's entnervt, mit einer preußischen Pairie, die
vollends ohne alleu Boden war. — Auf diese alten Formen zurückzugeben, ist
darum nicht möglich, weil man damit auch die alten Mißbräuche und die ganze
Unbehilflichkeit des ständischen Mechanismus wieder einfuhren müßte. Wohl aber
sind wir überzeugt, daß erst, wenn die Grundlage der Kreisverfassung sicher
festgestellt, und wenn der Kreisdeputirtc in der Lage sein wird, in seiner Hei¬
math einen realen Einfluß auszuüben, das Verhältniß zwischen Krone und Kam¬
mern eine bestimmte Physiognomie annehmen kann. Bis dahin werden unsre
Zustände immer provisorisch bleiben..

Drittens. Der preußische Staat ist seiner ganzen Lage nach von der
Art, daß die Durchführung des constitutionellen Systems bei ihm größere
Schwierigkeiten macht, als anderwärts. Er ist als deutscher Bundesstaat nicht
unbedingt souverain, und er ist in der Nothwendigkeit, seine militärischen Kräfte
in einem außergewöhnliche» Verhältniß zu entwickeln. Er repräsentirt nicht
ein natürliches geschlossenes Ganze, sondern eine Individualität, die erst im Be¬
griff ist, allmählich zu sich selbst zu kommen. Man darf es daher mit seiner ersten
Entwickelung nicht zu streng nehmen, und die Probe, ob er lebensfähig ist oder
nicht, nicht zu früh für abgeschlossen erachten.

Fassen wir alle diese Punkte zusammen, so ergiebt sich die Schwierigkeit de,s
preußischen Constitutionalismus sehr leicht. Die Krone ist den Kammern abge¬
neigt, und sie ist der stärkere Theil, denn sie disponirt über ein schlagfertiges
Heer und über eine im Ganzen wohlgeschnlte Bureaukratie, während die Kam¬
mern den Boden, auf deu sie sich stützen sollen, erst noch suchen. Es ist daher
vorauszusehen, daß wir noch längere Zeit, als wünschenswerth ist, das Schau¬
spiel mit ansehen müssen, wie die Kammern sich mit dem besten Willen abmühen,
und zuletzt doch Alles der Entscheidung der Krone anheim fällt. Wenn wir trotz¬
dem uns als entschiedene Anhänger des constitutionellen Systems für Preußen
erklären müssen, und das Aufgeben dieses Systems sür das größte Unglück halten
würden, so haben wir dazu folgende Gründe.

Erstens. Wir halten den specifisch preußischen Patriotismus sür das un¬
entbehrlichste Moment einer künftigen Wiedergeburt Deutschlands. Wir glauben,
daß sich nur aus ihm heraus ein künftiger deutscher Staat entwickeln kann, vor¬
ausgesetzt, daß er sich selber so weit cultivirt, um überhaupt das Recht einer
historischen Entwickelung in Anspruch nehmen zu dürfen. Nun beruhte bis jetzt
der preußische Patriotismus wesentlich ans unsrem Militair, und bestimmter ge¬
sagt, auf den Traditionen vom alten Fritz. Wir wollen auch diese Traditionen
hegen und pflegen, aber wir müssen behaupten, daß sie allein nicht mehr aus¬
reichen. Die Verhältnisse sind jetzt anders geworden, als zu den Zeiten des
siebenjährigen Krieges, und eine Armee, die keine Gelegenheit hat, sich in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/417>, abgerufen am 24.07.2024.