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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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sitze, bei Holle, Weimar, Cassel, Frankfurt oder Göttingen bedanken soll, wahr¬
scheinlich Göttingen." -- Eine Schaar lernbegieriger Studenten drängt sich an
ihm vorüber; er folgt ihnen. "Mit bedächtigem Schritt, weil ihm sein Schädel
zu schwer wird, steigt ein Professor mit einer Habichtsnase und knöchernen Wan¬
gen auf das Katheder: zu drei Theilen erhaben, zu einem grotesk. El" Strom
der Liebe draug in mein Herz, als dieser blasse, jungfräuliche Märtyrer einer
milden Begeisterung mit einem bedenklichen Husten präludirte, worauf-ich sym¬
pathetisch antwortete, und darauf mit einem ätherisch reinen, beinahe himmlisch
blauen Ange sein Auditorium übersah. Er ordnete seine Hefte, bis die Stu¬
denten sich geräuspert hatten, und jeder bärtige Mund in aufmerksamer Spannung
geordnet war, so still, daß man das Fallen eines Apfels eine halbe Meile weit
hätte hören können. Er schob seine Brille zurecht, ans der die Augen wie
Lampen ans einer Zelle funkelten, schüttelte sein Haupthaar wie' unser Jung¬
england, wenn es nach glücklich vollendeter Verdauung eine brillante Ansicht über
die Kleiderfrage von sich geben will, und begann mit einer ernsten, wohlthuen¬
den, obgleich heisern Stimme seine Weihnachtsrede." -- In derselben trockenen
Metaphysik, in der früher über die Heiligkeit der katholischen -Kirche scholastisch
disputirt war, wird jetzt der deutsche Pantheismus auseinandergesetzt. Auch dieser
kauu den Dichter nicht befriedigen; er verharrt in beständigem Wechsel zwischen
kaltblütigen Skepticismus und heftiger Sentimentalität, bis er 'endlich als letztes
Ziel seines Nachdenkens aufstellt, es solle ein Jeder deu Weg zum Herrn ge¬
wissenhaft suchen, und was seine individuelle Erfahrung ihm überliefert, den
Menschen mittheilen; die Vorsehung werde baun das Uebrige thun: ein Resultat,
welches von seiner ursprünglichen Empfindung nicht wesentlich abweicht und mir
eine sehr zweifelhafte Befriedigung gewähren kann.

Im "Ost er tag" vertieft sich der Dichter unter die Erdoberfläche und be¬
lauscht die geheime Werkstätte der unterirdischen Geister, von denen das Gewebe
der Natur geleitet wird. Was er aber dort schaut, ist so metaphysisch, so we¬
nig greifbar, daß wir dadurch doch keine genaue Vorstellung von den Mysterien
dieser Welt erlangen; wir bleiben auf der Grenze der sichtbaren und der unsicht¬
baren Welt, wie die Geister der Abgeschiedenen, die am User des Styx herum¬
irren müssen. -- Von den übrigen Gedichten sind noch auszuzeichnen: "IKs
forn's traxizä^" und ,,?ippg, passes;" in dem letztern wird der in den-größeren
Gedichten schon mehrfach berührte Gedanke weiter ausgeführt, daß mau die Kunst
am besten fördere, wenn man ohne bestimmte Vorbildung in der einzelnen Kunst
die Ideale und Probleme der Kunst überhaupt verfolge, daß dieser scheinbare
Umweg eigentlich die gerade Linie sei: eine Ansicht, die doch sehr bedenklich sein
möchte. -- Neben diesen metaphysischen Gedichten haben wir aber noch eine ganze
Reihe anderer von Browning, die in dem altenglischen Balladenstyl gehalten sind,
und ein bedeutendes lyrisches Talent verrathen.


sitze, bei Holle, Weimar, Cassel, Frankfurt oder Göttingen bedanken soll, wahr¬
scheinlich Göttingen." — Eine Schaar lernbegieriger Studenten drängt sich an
ihm vorüber; er folgt ihnen. „Mit bedächtigem Schritt, weil ihm sein Schädel
zu schwer wird, steigt ein Professor mit einer Habichtsnase und knöchernen Wan¬
gen auf das Katheder: zu drei Theilen erhaben, zu einem grotesk. El» Strom
der Liebe draug in mein Herz, als dieser blasse, jungfräuliche Märtyrer einer
milden Begeisterung mit einem bedenklichen Husten präludirte, worauf-ich sym¬
pathetisch antwortete, und darauf mit einem ätherisch reinen, beinahe himmlisch
blauen Ange sein Auditorium übersah. Er ordnete seine Hefte, bis die Stu¬
denten sich geräuspert hatten, und jeder bärtige Mund in aufmerksamer Spannung
geordnet war, so still, daß man das Fallen eines Apfels eine halbe Meile weit
hätte hören können. Er schob seine Brille zurecht, ans der die Augen wie
Lampen ans einer Zelle funkelten, schüttelte sein Haupthaar wie' unser Jung¬
england, wenn es nach glücklich vollendeter Verdauung eine brillante Ansicht über
die Kleiderfrage von sich geben will, und begann mit einer ernsten, wohlthuen¬
den, obgleich heisern Stimme seine Weihnachtsrede." — In derselben trockenen
Metaphysik, in der früher über die Heiligkeit der katholischen -Kirche scholastisch
disputirt war, wird jetzt der deutsche Pantheismus auseinandergesetzt. Auch dieser
kauu den Dichter nicht befriedigen; er verharrt in beständigem Wechsel zwischen
kaltblütigen Skepticismus und heftiger Sentimentalität, bis er 'endlich als letztes
Ziel seines Nachdenkens aufstellt, es solle ein Jeder deu Weg zum Herrn ge¬
wissenhaft suchen, und was seine individuelle Erfahrung ihm überliefert, den
Menschen mittheilen; die Vorsehung werde baun das Uebrige thun: ein Resultat,
welches von seiner ursprünglichen Empfindung nicht wesentlich abweicht und mir
eine sehr zweifelhafte Befriedigung gewähren kann.

Im „Ost er tag" vertieft sich der Dichter unter die Erdoberfläche und be¬
lauscht die geheime Werkstätte der unterirdischen Geister, von denen das Gewebe
der Natur geleitet wird. Was er aber dort schaut, ist so metaphysisch, so we¬
nig greifbar, daß wir dadurch doch keine genaue Vorstellung von den Mysterien
dieser Welt erlangen; wir bleiben auf der Grenze der sichtbaren und der unsicht¬
baren Welt, wie die Geister der Abgeschiedenen, die am User des Styx herum¬
irren müssen. — Von den übrigen Gedichten sind noch auszuzeichnen: „IKs
forn's traxizä^" und ,,?ippg, passes;" in dem letztern wird der in den-größeren
Gedichten schon mehrfach berührte Gedanke weiter ausgeführt, daß mau die Kunst
am besten fördere, wenn man ohne bestimmte Vorbildung in der einzelnen Kunst
die Ideale und Probleme der Kunst überhaupt verfolge, daß dieser scheinbare
Umweg eigentlich die gerade Linie sei: eine Ansicht, die doch sehr bedenklich sein
möchte. — Neben diesen metaphysischen Gedichten haben wir aber noch eine ganze
Reihe anderer von Browning, die in dem altenglischen Balladenstyl gehalten sind,
und ein bedeutendes lyrisches Talent verrathen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/393>, abgerufen am 24.07.2024.