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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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den ihre Rechte geltend macht: das Bedürfniß, zu lieben und zu leben. --
Im Anfang des zweiten Theils finden wir Paracelsus in Basel als Lehrer und
Arzt. Er hat seine großen medicinischen Entdeckungen anf Umwegen gemacht,
er suchte das absolute Wissen, und fand die endliche Wissenschaft. So werden
nach der zu weit ausgedehnten Theorie unsres Dichters, die er auch in mehreren
seiner kleinen Gedichte ausgeführt hat, überhaupt alle Fortschritte gemacht. Para¬
celsus findet zuerst eine leidenschaftliche Anerkennung, dann regt sich der Neid der
eingebildeten Gelehrsamkeit gegen ihn; er wird vertrieben. Er verzweifelt jetzt
an der Gerechtigkeit der Weltordnung, und sieht in Allem, was geschieht, anch
in der Bildung seines eigenen Wissens, ein leeres Spiel des Zufalls oder eines
bösen Wesens. Da er so gern die Menschen lieben wollte, sieht er sich jetzt zu
einem Gefühl der Verachtung getrieben, das nahe an Haß grenzt. Zwar fährt
er fort, nach der Anweisung Aprile's das Gute zu lehren und zu thun, aber ohne
Hoffnung. Ich werde froh sein, sagt er, wenn die Posse ausgespielt ist und der
Vorhang fallt; bis dahin muß man schon seine gute Haltung bewahren. Noch
hat er sich nicht zu dem hohem Grundsatz der Humanität aufgeschwungen, daß
man trotz seines bessern Wissens, wenn man die Menschen wirklich lieben und
ihnen Gutes thun will, auch vor ihren Vorurtheilen eine gewisse Achtung haben
muß, da sich in diesen doch immer die Träume vom Guten und Wahren aus-
sprechen. Der Widerstand der Masse ist nach der richtigen Ansicht des Dichters
die Form, in welche die ewige Nothwendigkeit die individuelle Entwickelung
drängt, damit sie nicht ihr einseitiges Gepräge der Menschheit ausdrücke. Zu
dieser Ansicht gelangt endlich Paracelsus bei seinem Tode, der im Hospital zu
Salzburg erfolgt. "Ich habe gelebt"; sagt er in seinem letzten Monolog, "schon
das bloße Leben genügt, um dem Herrn einen Lobgesang anzustimmen. Wir
mögen das Gute oder das Böse wollen, anch ans dem falschen Streben geht
durch eine göttliche Ironie immer das Gute hervor. Glücklich war meine Zeit,
denn ich habe sie der Menschheit gewidmet. Ich habe gedacht und habe empfunden,
nicht wie man irgend einen andern Gegenstand denkt und empfindet, es war
eine unermeßliche, gestaltlose Empfängniß des Wahren, die sich in, allen Schwan¬
kungen und Umgestaltungen meines Geistes kund gab, ja in allen Poren dieses
Leibes, der sich nun auflöst." Dann folgen pantheistische Visionen über die All¬
gegenwart Gottes und über die Zukunft der Menschheit. "Die Menschen fangen
an, über die Grenze ihrer Natur hinauszugehn, neue Hoffnungen zufassen und
neue Schmerzen zu empfinden. Sie werden zu groß für die engen Formeln von
Recht und Unrecht..... Ich habe gefehlt und meine Pläne sind gescheitert,
weil ich die Fähigkeit und Kraft der Menschheit so scharf ins Auge faßte, daß
ich darüber blind wurde gegen ihre Schwächen; ich glaubte, wir könnten uns
selbst genügen, verachtete und ignorirte die Vergangenheit, und wähnte, in einem
einzigen Moment die Wiedergeburt der Menschheit ins Werk setzen zu können.


den ihre Rechte geltend macht: das Bedürfniß, zu lieben und zu leben. —
Im Anfang des zweiten Theils finden wir Paracelsus in Basel als Lehrer und
Arzt. Er hat seine großen medicinischen Entdeckungen anf Umwegen gemacht,
er suchte das absolute Wissen, und fand die endliche Wissenschaft. So werden
nach der zu weit ausgedehnten Theorie unsres Dichters, die er auch in mehreren
seiner kleinen Gedichte ausgeführt hat, überhaupt alle Fortschritte gemacht. Para¬
celsus findet zuerst eine leidenschaftliche Anerkennung, dann regt sich der Neid der
eingebildeten Gelehrsamkeit gegen ihn; er wird vertrieben. Er verzweifelt jetzt
an der Gerechtigkeit der Weltordnung, und sieht in Allem, was geschieht, anch
in der Bildung seines eigenen Wissens, ein leeres Spiel des Zufalls oder eines
bösen Wesens. Da er so gern die Menschen lieben wollte, sieht er sich jetzt zu
einem Gefühl der Verachtung getrieben, das nahe an Haß grenzt. Zwar fährt
er fort, nach der Anweisung Aprile's das Gute zu lehren und zu thun, aber ohne
Hoffnung. Ich werde froh sein, sagt er, wenn die Posse ausgespielt ist und der
Vorhang fallt; bis dahin muß man schon seine gute Haltung bewahren. Noch
hat er sich nicht zu dem hohem Grundsatz der Humanität aufgeschwungen, daß
man trotz seines bessern Wissens, wenn man die Menschen wirklich lieben und
ihnen Gutes thun will, auch vor ihren Vorurtheilen eine gewisse Achtung haben
muß, da sich in diesen doch immer die Träume vom Guten und Wahren aus-
sprechen. Der Widerstand der Masse ist nach der richtigen Ansicht des Dichters
die Form, in welche die ewige Nothwendigkeit die individuelle Entwickelung
drängt, damit sie nicht ihr einseitiges Gepräge der Menschheit ausdrücke. Zu
dieser Ansicht gelangt endlich Paracelsus bei seinem Tode, der im Hospital zu
Salzburg erfolgt. „Ich habe gelebt"; sagt er in seinem letzten Monolog, „schon
das bloße Leben genügt, um dem Herrn einen Lobgesang anzustimmen. Wir
mögen das Gute oder das Böse wollen, anch ans dem falschen Streben geht
durch eine göttliche Ironie immer das Gute hervor. Glücklich war meine Zeit,
denn ich habe sie der Menschheit gewidmet. Ich habe gedacht und habe empfunden,
nicht wie man irgend einen andern Gegenstand denkt und empfindet, es war
eine unermeßliche, gestaltlose Empfängniß des Wahren, die sich in, allen Schwan¬
kungen und Umgestaltungen meines Geistes kund gab, ja in allen Poren dieses
Leibes, der sich nun auflöst." Dann folgen pantheistische Visionen über die All¬
gegenwart Gottes und über die Zukunft der Menschheit. „Die Menschen fangen
an, über die Grenze ihrer Natur hinauszugehn, neue Hoffnungen zufassen und
neue Schmerzen zu empfinden. Sie werden zu groß für die engen Formeln von
Recht und Unrecht..... Ich habe gefehlt und meine Pläne sind gescheitert,
weil ich die Fähigkeit und Kraft der Menschheit so scharf ins Auge faßte, daß
ich darüber blind wurde gegen ihre Schwächen; ich glaubte, wir könnten uns
selbst genügen, verachtete und ignorirte die Vergangenheit, und wähnte, in einem
einzigen Moment die Wiedergeburt der Menschheit ins Werk setzen zu können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/391>, abgerufen am 24.07.2024.